Die Chroniken der Nebelkriege 2: Der Eisige Schatten
Schwefelschirmlinge in orangefarbenem Licht. Ein mächtiger Wind brauste durch die Bäume und die Umgebung am Rande der Lichtung wurde von einer tiefen Dunkelheit verschluckt. Kai sah sich gespannt um und bemerkte, dass der Duft nach Tannennadeln und Harz noch intensiver wurde. Ein leises Kichern war zu hören. Unter Kais ungläubigen Blicken bewegten sich die Pilze plötzlich auf sie zu und verwuchsen dann wieder mit dem Boden. Der Ring um sie herum war nun wesentlich enger geworden. Der Wind ließ nach und die tiefe Dunkelheit, die sich über den Wald gelegt hatte, wich wieder dem hellen Mondlicht. Vielstimmiges Kreischen und lautes Kichern hallte durch das Dickicht. Keinesfalls war das jedoch die Waldlichtung, auf der sie sich eben noch befunden hatten. Die Fichten um sie herum hatten sich nicht nur in Form und Gestalt verändert, sie waren überdies mit dicken Lagen Schnee bedeckt. Dieser Hexenkreis verfügte offenbar über die Fähigkeiten der Wandelnden Kammer daheim in Hammaburg.
»So, wir sind da!«, meinte Amabilia vergnügt und lenkte das Eichhörnchen aus dem Pilzkreis heraus einen steilen Abhang hinauf. Von dort oben kamen die ausgelassenen Geräusche.
Ein lautes Kreischen riss den Zauberlehrling aus seinen Gedanken, und eine dunkle Gestalt mit spitzem Hut und langem Gewand rauschte über ihre Köpfe hinweg. Bei allen Moorgeistern, die Hexe flog tatsächlich auf einem Besen durch die Nacht! Kai musste grinsen. Eine ungewöhnliche Fortbewegungsmethode, aber irgendwie gar nicht so viel anders als die Schreibfeder, die Magister Eulertin so gern gebrauchte.
Sie befanden sich direkt unterhalb des Gipfels des Schwarzen Berges. In der Mitte des Hexenplatzes ragte ein mächtiger Felsen auf, um den herum ein gutes Dutzend runder Steine lagen. Überall sprangen, tanzten und flogen Hexen durch die Nacht, von denen jede eine ganz eigene Art der Anreise gewählt hatte. Er sah Frauen aus dem Volk der Wichtel, die auf den Rücken von Katzen und Eulen zum Mondfest gekommen waren, Hexen mit grotesken Kopfbedeckungen, die auf Besen, Fässern und Waschzubern wild durch die Luft stoben, eine Gnomin, die auf einer Kröte saß, welche sich mit langsamen Drehbewegungen aus der Erde schraubte und drei tierhafte Gestalten, die kaum noch etwas Menschliches an sich hatten. Zwei von ihnen begrüßten sich mit lautem Knurren. »Herrje!«, entfuhr es dem entgeisterten Zauberlehrling angesichts des wilden Treibens um sich herum.
»Wohl nicht ganz das, was du erwartet hast, wie?« Amabilia kicherte und galoppierte auf eine rothaarige Däumlingshexe mit wildem Strubbelhaar zu, die soeben von einem Fischreiher abstieg.
Amabilia saß elegant ab und die beiden Däumlingsfrauen umarmten sich. Offenbar waren sie beide die einzigen Vertreterinnen ihres winzigen Volkes, die zum Hexenfest gekommen waren. Bei den meisten der Zauberinnen handelte es sich zweifelsohne um Menschen, auch wenn sich Kai bei einigen nicht ganz sicher war.
»Kai«, rief Amabilia freudig, »darf ich dir Ginster Murmelgrund vorstellen? Sie ist meine älteste Freundin.«
»Angenehm.« Kai stieg ab und reichte der Rothaarigen zögernd die Hand. »Ein Menschenjunge«, summte Ginster nachdenklich. »Roxana wird nicht erfreut sein, Amabilia. Ich hoffe, du hast einen guten Grund, ihn mit hierherzubringen?« »Oh ja, den habe ich«, antwortete Amabilia. »Ihr alle werdet den Anlass erfahren, sobald wir vollzählig sind. Hast du die große Mutter denn schon gesehen?« »Nein, sie ist noch nicht eingetroffen«, antwortete die Däumlingshexe. »Seltsam, dabei hat sie sich bisher noch nie verspätet.«
»Wer ist diese Roxana?«, fragte Kai.
»Oh, das ist die oberste aller Hexen. Es heißt, sie sei viele Hundert Jahre alt. Sie ist die Weiseste und Erfahrenste unter uns«, sagte Amabilia.
»Aha«, meinte Kai, den das Kichern, Kreischen und Knurren um ihn herum nervös machte. »Gibt es eigentlich einen bestimmten Anlass, aus dem ihr Euch heute trefft? Ich meine, Ihr reist doch sicher nicht alle von nah und fern an, um zu feiern oder Kochrezepte auszutauschen.« Amabilia lachte schallend »Och, zuweilen machen wir genau das. Der eigentliche Grund aber ist, dass wir heute, zum Mondfest, etwas tun können, zu dem wir Hexen nur einmal im Jahr und auch nur gemeinsam fähig sind: Wir werden den Wildegrimm, den Berggeist des Schwarzen Berges anrufen.«
»Einen Berggeist?«
»Oh ja«, antwortete Amabilia. »Früher, bevor wir Hexen diesen Ort entdeckten, war er wild und
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