Die Chroniken der Nebelkriege 3: Die Letzte Flamme
Übellaunig blickte der Klabauter zum Krähennest des Schiffes auf, über dem gut sichtbar die Freibeuterflagge der Nebelkönigin im Wind wehte. Er klappte ein langes Fernrohr auf, das er Kai in die Hand drückte. »Das, was sich da vorne aus dem Dunst schält, ist die Königsstadt Alba.«
Vor dem kreisrunden Ausschnitt des Fernrohrs konnte Kai die grauschwarze Silhouette einer großen Stadt mit dicht gedrängten Häusern und seltsam schief stehenden Bauwerken ausmachen, denen schon von Ferne der Eindruck von Moder und Verfall anhaftete. Der graue Schleier, der über der albionschen Königsmetropole lag, war nicht ganz so undurchdringlich wie auf dem offenen Meer. Dennoch wirkte Alba auf ihn, als sei die Stadt von einem giftigen Dunst eingehüllt, der unentwegt aus dem Untergrund aufstieg. Manche der Gebäude stachen aus dem Dächermeer wie abscheuliche Pilze hervor. Wer hier lebte, der hatte ohne Zweifel alle Hoffnung aufgegeben. Doch eine Flucht schien unmöglich, denn die albtraumhafte Metropole wurde von einer turmbewehrten Stadtmauer umschlossen, die sich wie der Kiefer eines gewaltigen Hais weit ins Landesinnere erstreckte.
»Du meine Güte, welch ein finsterer Ort«, stöhnte Kai.
»Na, dann warte nur ab, bis Morgoya ihr schreckliches Werk beendet hat«, meinte Fi mit bitterer Stimme. »Denn dann wird es auch überall auf dem Kontinent so aussehen. Vor zwanzig Jahren noch war Alba eine blühende Stadt. Der Hafen war ihre Lebensader. Doch Morgoya hat Alba ausgepresst bis auf die Knochen.« »Mal nicht so verzagt, ihr beiden Seesterne«, krächzte Koggs. »Immerhin sind wir hier, um das zu ändern. Fi, du gehst jetzt am besten unter Deck und verkleidest dich wieder. Und du, Junge, du bindest am besten eine Laterne an die Spitze deines Zauberstabs, damit du nicht sofort als Zauberer erkannt wirst.«
»Eine Laterne? Ich dachte, wir wollten möglichst unauffällig bleiben?« »Hier in Alba ist es sogar tagsüber üblich, Lampen mit sich herumzutragen«, belehrte ihn der Klabauter. »Nicht etwa um zu sehen, sondern um gesehen zu werden. Wer ohne Laterne erwischt wird, der gilt als Feind der Stadt und wird von Morgoyas Greiftrupps ohne viel Federlesens um die Ecke gebracht.«
Kai nickte verwirrt und schaute abermals durch das Fernrohr.
»Verflucht, Koggs, da tut sich was.« Aufgeregt deutete er zu zwei großen Basalttürmen, die den Hafeneingang flankierten. Zwischen den Türmen kamen nach und nach ein halbes Dutzend Drachenschiffe aus Hraudungs Frostreich zum Vorschein, die unter rhythmischen Ruderschlägen auf den Fluss zusteuerten. An Bord befanden sich Hunderte von albionschen Soldaten.
Fi griff umgehend zu ihrem Bogen, doch Koggs hielt sie zurück. »Ruhig, du Stachelrochen. Keine unnötige Aufregung. Das ist ein Konvoi, der weitere Truppen zum Festland bringt.«
»Auf Drachenbooten ?« Kai schüttelte verwundert seinen Kopf. »Was ist mit diesen schwarzen Seglern ? Auf denen haben doch viel mehr Soldaten Platz.«
Koggs nahm Kai das Fernrohr ab und warf nun selbst einen Blick hindurch. »So langsam ahne ich, wofür Morgoya die Nordmänner braucht. Die Drachenboote haben im Gegensatz zu den Hochschiffseglern keinen großen Tiefgang und können auch die Flüsse des Kontinents befahren. Mit ihrer Hilfe kann Morgoya ihre Streitmacht zügig viele Hundert Meilen hinein aufs Festland führen. Und wenn es stimmt, was mir Thadäus berichtet hat, dann ist nicht die Elbe ihr Ziel, sondern der Rhyn. Diese Kämpfer sind für die Schlacht um Colona bestimmt.« Koggs klappte das Fernrohr grimmig zusammen und steckte es weg. »Und jetzt tut, was ich euch gesagt habe. Und ihr, Männer«, der Klabauter wandte sich zum Hauptdeck um, wo ihm seine Schmuggler bereits gespannt entgegenblickten, »macht euch bereit zu unserem größten Schurkenstreich! Von nun an benehmt ihr euch so, wie man es von blutrünstigen Freibeutern dieser elenden Nebelhexe erwartet! Hauptsache, ihr lasst niemanden an Bord. Das Schiff muss jederzeit zum Auslaufen bereit sein. Habe ich mich verständlich ausgedrückt?«
»Ho!«, ertönte es gehorsam aus Dutzenden Kehlen.
»Gut, dann macht das Schiff jetzt zum Einlaufen klar!«
In die Männer kam Bewegung. Noch während Fi hinunter in den Schiffsbauch kletterte, wurde das Hauptsegel eingeholt und der Segler verlor an Fahrt. Kai band eine der Schiffslaternen an seinen Zauberstab und entzündete diese, da die Lichtverhältnisse über dem Fluss zunehmend schlechter wurden. Koggs hingegen stand mit auf
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