Die Chroniken der Schattenwelt: Angelos (German Edition)
stolperte, aber umgehend traf sie ein Blick von Avartos. Der Engel sah in seiner neuen Kleidung aus, als hätte er nie etwas anderes getragen, und seine Augen wirkten noch eindringlicher, nun, da sein Haar und sein Mund von dem Tuch verdeckt wurden.
»Noch ein Gossenausdruck der Schatten«, sagte er streng, »und ich werde dich in ein Gewand der Hohen Töchter Lhafars stecken. Ein Traum aus fließender Seide und mit einer Schleppe, die man mehrfach um den Marktplatz legen könnte, so lang ist sie. Die Prinzessinnen der Wüste absolvieren in dieser Tracht die traditionellen Pferderennen, ohne an Haltung zu verlieren, und ich bin mir sicher, dass auch du ganz entzückend darin aussehen würdest. Übrigens ist sie nicht so trist wie diese hier. Sie ist pink.«
Nando musste lachen, aber Noemi warf ihm einen so vernichtenden Blick zu, dass er sich einen Kommentar sparte. Langsam gewöhnte er sich an den leicht schlurfenden Gang, den diese Kleidung erforderte, die Schmerzen in seinem Rücken ließen nach, und spätestens als sie vor die Tore der Stadt traten und er das Schauspiel betrachtete, das sich ihnen bot, hatte er seine Müdigkeit vergessen.
Der sternenbesetzte Himmel spannte sich scheinbar endlos über der Ebene. Fackeln erhellten die aufbruchbereiten Engel, die in kleineren Gruppen zusammenstanden, kamelähnliche Tiere warteten geduldig abseits der Feuer, und über ihnen schwebten bunte Himmelslichter. Das Herzstück der Szene war ein rötlich erhelltes Zelt. Davor stand ein Lakai in purpurner Uniform und schrieb die Anwesenden der Reihe nach in eine Liste. Vereinzelt blökten die Tiere, sie klangen wie heisere Esel, aber sie übertönten nicht dauerhaft die Stimmen der Engel, die sich zu einem fremdartigen, melodischen Gemurmel verbanden. Es waren Engel jeder Gestalt und Herkunft, abenteuerlich gekleidete Krieger, die am Feuer ihre Waffen schärften, Amazonen mit kunstvoll gezwirbelten Haaren und geheimnisvolle Wüstenläufer, die vollkommen lautlos durch die Menge schritten oder fernab des Trubels in die Dunkelheit der Wüste schauten.
Eine stille Übereinkunft lag über der ganzen Szene, und Nando musste an die Verbundenheit denken, die er auch bei den Besuchern des Aschemarktes empfunden hatte. Keinen dieser Engel hätte er sich dauerhaft in den herrschaftlichen Gassen Nhor’ Kharadhins vorstellen können, aber hier, umgeben von endloser Weite, wirkten sie frei und von tiefer Schönheit.
»Verfluchter Wind!«
Noemi griff noch nach ihrem Tuch, aber eine heftige Bö hatte es schon gepackt und zerrte es ihr vom Kopf, sodass ihr Haar im Wind flatterte. Wie ein freches Kind spielte er damit. Wütend knüllte sie das Tuch zusammen und hob abwehrend die Hand, als Avartos zu sprechen ansetzte.
»Vergiss es«, zischte sie. »Ich werde es mir nicht mehr umlegen und mir davon den letzten Nerv rauben lassen! Dieses Tuch ist … «
»… ein Schutz«, erwiderte Avartos ruhig und griff so schnell danach, dass Noemi nicht zurückweichen konnte. Er ließ es durch seine Finger gleiten, spielerisch bauschte es sich im Wind. »Dieser Schleier bewahrt uns nicht nur vor dem Sand der Wüste. Kennt ihr die Legenden der Khoraai An’uu, der Stimmen der Winde? Die Geschichtenerzähler der Ukarem’ Xhey verstehen sich darauf, ihnen zuzuhören, und manchmal berichten sie von den Geheimnissen, die sie in den Tiefen des Ewigen Sandes erfahren. Denn es liegt mehr in diesen Dünen, als wir ahnen. Nichts, das in der Wüste stirbt, geht verloren. Alles bleibt. Und wenn man es zulässt, dann kann man sie singen hören: die Stimmen der Toten.« Er hielt inne, aber während Nando nur das unharmonische Blöken der Tiere wahrnahm, glitt ein Lächeln über Noemis Gesicht. Sie wehrte sich nicht, als Avartos ihr das Tuch umlegte, und nach wenigen Handgriffen konnte der Wind es ihr nicht mehr entreißen.
»Doch nicht alle, die in diesem Sand starben, sind den Lebenden wohlgesonnen«, sagte eine Stimme hinter ihnen. Mochanon trat auf sie zu, und nun, da der Sand der Wüste um seine Füße tanzte und die Feuer seiner Fackeln über sein Gesicht flammten, wurde Nando bewusst, dass dieser Engel keine Stadt länger als ein paar Stunden um sich herum ertrug. Er war in der Tat ein Ikarym, ein Sohn der Wüste, in der Weite der Dünen geboren, ein Krieger der Freiheit und des ungestümen Windes über dem Meer aus Sand. Niemals würde er sich jemand anderem beugen als dem eigenen Willen. »Auch das erzählen sich die Wüstenläufer an ihren einsamen
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