Die Chroniken der Schattenwelt: Angelos (German Edition)
fort von ihm, und wieder zog er sie zurück. Doch als er sie festhielt, fühlte er ihren Puls an seinen Fingern, pochend und laut wie ein Versprechen.
Schneidend fuhr der Sturm ihm ins Gesicht. Zwei Schemen zugleich warfen sich auf ihn, aber plötzlich fühlte er etwas in ihrem Wüten, etwas Glühendes, das ihm dieses Versprechen neidete – dieses flüchtige und doch so mächtige Zeichen des Lebens. Er stieß die Schemen von sich und schloss die Augen, ehe ihn der nächste Angriff treffen konnte. Noemis Hand war eiskalt in der seinen, aber er ließ sich von dem Klang ihres Herzens durchfließen und sah vor seinem inneren Auge, wie er Raars Sturm durchdrang. Jedes Staubkorn bildete er ab, als hätten Schallwellen es berührt. Mechanisch parierte Avartos den Hieb eines Schemens, immer schneller prasselten die Angriffe nun auf ihn ein, doch da erkannte er Raar hoch über sich. Fast regungslos schwebte er inmitten seiner tosenden Abbilder – sichtbar gemacht durch den Herzschlag eines Menschen.
Noemis Knie gaben nach. Sie bekam keine Luft mehr und sackte in Avartos’ Armen zusammen. Er legte einen Schutz auf sie, doch er spürte die Kraft der Hölle mit jedem Schwingenschlag des Dämons über ihm. Um den Sturm zu brechen, um Noemi zu retten, musste er seine gesamte Kraft anwenden, und vielleicht … Er hielt inne und zwang sich, seinen Gedanken fortzuführen. Vielleicht mehr als das.
Schmerzhaft nahm er die Bilder wahr, die noch immer durch Noemis Inneres peitschten. Wie sehr hätte er sich gewünscht, dass dieser Moment nicht von Gefühlen wie diesen geprägt gewesen wäre. Und das war er auch nicht. Nicht für ihn.
Erinnere dich , wiederholte er. Erinnere dich an das Meer aus Tränen. Erinnere dich an Schatten, an Licht, an den Tanz dicht am Abgrund, und vergiss nicht, dass ein Engel mehr sein kann als Gold und Farben. Noemi … Erinnere dich an uns.
Kurz strich er ihr übers Haar, er meinte, Schnee darin zu riechen und den Duft von schwarzen Wellen. Dann ließ er sie vorsichtig zu Boden gleiten, verstärkte den Schutzwall über ihr und erhob sich in die Luft. Er konnte die Hitze des Dämons fühlen, ebenso wie den Zauber in sich selbst, der jede Glut der Hölle in Fetzen reißen würde – und sah den Schatten zu spät, der sich im letzten Augenblick vor ihn warf. Schwarz wie ein Schleier aus Nacht hüllte Noemi den Dämon ein, in dessen Armen sie gelandet war. Das Messer der Khrasar steckte tief in seinem Nacken. Raar erstarrte in seinen Bewegungen. Im selben Moment glitt Noemis Haar zurück und gab den Blick frei auf die Wunde in ihrer Brust – ein tiefer Schnitt an der Stelle, wo der Stab des Dämons sie berührte. Schon färbte ihre Haut sich schwarz, und im nächsten Augenblick verlor sie die Kontrolle über ihre Schwingen. Sie fiel. Gleichzeitig verwandelte sich Raars Körper in Glas und zersprang zu schwarzen Scherben. Wispernd stoben sie durch die Luft, begierig darauf, sich wieder zusammenzufügen, und begleiteten Noemis Sturz.
Bevor sie am Boden aufschlug, fing Avartos sie auf. Ihre Lider wurden bereits schwer, doch als sie seinen Blick erwiderte, glitt ein Lächeln über ihre Lippen. Er merkte kaum, wie sein Flammenwall sich über sie legte und sie vor den Schergen der Hölle schützte. Stattdessen nahm er den Wind wahr, der die Wellen des Tränenmeeres immer begleitet hatte, und er erinnerte sich daran, dass Noemi die Lieder kannte, die einst über sein Wasser geflogen waren. Die Ra’fhi kannten alle Geschichten der Welt , hatte sie ihm das nicht gesagt? Sie war zurückgekommen, durch Zorn, durch Hass, durch Kälte. Sie war zurückgekommen – zu ihm.
Er zog sie an sich und konnte spüren, wie der Fluch des Dämons sich seinen Weg durch ihren Körper bahnte. Knirschend fügte Raar seinen Leib hinter ihm wieder zusammen, doch Avartos nahm es kaum wahr. Alles, was er spürte, war die Kälte, die sich über seine Gedanken zog, wie sie es immer getan hatte, wenn der Schmerz in ihm zu groß wurde. Das Gesicht seines Vaters tauchte in ihm auf, für einen Moment wollte er nichts mehr, als dessen Licht zu folgen, um dem zu entkommen, was nun in ihm entfacht wurde. Doch stattdessen sah er Noemi an. Er hielt ihren Blick fest und tat, was er ihr gesagt hatte. Er erinnerte sich. Er dachte an den Duft ihres Haares, an die Wärme in ihrer Stimme, den Trotz in ihren Augen, und er ließ den Schmerz zu, der ihn angesichts des Todes nun erfüllte, der ihm Noemi aus den Händen zog. Er begann zu zittern, aber er
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