Die Chroniken der Schattenwelt: Angelos (German Edition)
war, ließ ihn nicht frei. Das Nächste, was er sah, war er selbst. Er rannte wie von Sinnen durch die halb zerstörte Festung, eine winzige, hilflose Gestalt, und er spürte ihn wieder, den Schrei, der sich über Stunden in seiner Kehle gesammelt hatte und der nun, da er im verbrannten Innenhof auf die Knie fiel, aus ihm hervorbrach. Hell jagte er durch die Ruine und über die tosenden Wellen des Meeres, doch er klang nicht wie der Schrei eines Engels, eines Kriegers, eines Helden – er klang wie der Schrei eines Menschenkindes.
Ein stechender Schmerz peitschte durch Avartos’ Hand und ließ ihn die Augen aufreißen. Blut lief über seine Finger, die Splitter der leeren Laskantinkapsel steckten in seinem Fleisch, doch ehe er sich aufrichten konnte, beugte Korrodos sich über ihn.
»Du kennst deine Dosis also, Narr von einem Engel«, raunte er. »Zu viel von dem Zeug ist nicht gut für euch. Es macht alles nur schlimmer, sobald die Wirkung nachlässt. Ich … «
Avartos stieß schneidend die Luft aus. »Du weißt nichts von uns, Dämon«, zischte er, aber Korrodos betrachtete ihn wie ein dummes Kind, das die richtige Antwort auf eine einfache Frage nicht kannte. Überdeutlich spürte Avartos sein Herz in seiner Brust, verflucht, wieso schlug es so schnell? Er sah noch, wie Korrodos eine Spritze mit tiefrotem Laskantin füllte, dann ließ heftiger Schwindel das Bild vor seinen Augen verschwimmen. Der Stich war kurz und schmerzhaft, kraftvoll ergoss sich die rote Macht in Avartos’ Venen, und plötzlich sah er wieder den Dämon vor sich. Der kristallene Würfel schien sich so schnell zu bewegen, dass Korrodos’ verschiedene Gesichter sich überlagerten, und er erinnerte Avartos an einen Clown, den dieser einmal in der Welt der Menschen gesehen hatte. Einsam hatte er am Rand einer verlassenen Zirkusarena gesessen, Avartos hatte den Grund nicht gekannt, aber er konnte noch immer das Salz seiner Tränen auf seinen Lippen schmecken.
»Ihr sucht Linderung Eurer Sehnsucht«, sagte Korrodos beinahe sanft. »Doch es sind nicht die Schatten allein, die Euch quälen, und Ihr wisst das. Vor allem anderen, mein unsterblicher Freund, ist es das Licht.«
Avartos hörte ihn, doch er sah ihn nicht mehr. Zu mächtig war die rote Welle, die über ihm zusammenschlug und jedes Bild, jede Erinnerung mit sich nahm. Sein Vater versank in ihren Fluten, ebenso seine Mutter, jeder Atemzug, jede Ruine, jeder Schrei. Am Ende verschwand die Welle selbst, und alles wurde still.
Ein dumpfer Kopfschmerz stach Avartos in die Schläfen, als er zu sich kam. Er war allein, für einen Moment verharrte er auf der Liege, ohne sich zu rühren. Noch nie zuvor hatte er Laskantin in dieser Konzentration zu sich genommen, und doch … Korrodos hatte recht gehabt. Offensichtlich hatte sich seine Dosis erhöht. Langsam kam er auf die Beine und drehte sich am Ausgang der Kabine noch einmal um. Es schien ihm, als würde ihn jemand ansehen, und als er sein eigenes Spiegelbild in einem der gläsernen Behälter betrachtete, flammte ein Gesicht darin auf, das Gesicht eines jungen Mädchens mit tiefschwarzem Haar und ungewöhnlich grünen Augen. Sie sah ihn an – spöttisch? Nein, nur traurig.
Die Schatten fordern immer ihren Tribut, hörte er sich sagen, und sie antwortete ihm: Wie das Licht, nicht wahr?
Abrupt wandte Avartos sich ab. Verflucht, wo sollte das enden? Schlimm genug, dass ihn die Bilder seiner Vergangenheit heimsuchten wie ein Kind, das in einem dunklen Keller seinen Albträumen begegnet. Schlimm genug, dass ein Dämon besser über seine Laskantindosis Bescheid wusste als er selbst – da fehlte es gerade noch, dass er sich von einem Kind der Schatten aus dem Konzept bringen ließ!
Entschlossen schlug er den Vorhang zurück und hatte gerade das Zelt hinter sich gelassen, als ihn etwas anflog, kaum mehr als ein Atemzug vielleicht. Und doch genügte dieser Hauch, um ihn innehalten zu lassen. Er hob den Blick, die Luft war klarer als noch vor wenigen Stunden, und er spürte die Kälte, die geisterhaft durch die Gassen kroch, lauernd und boshaft, als wäre sie ein schleichendes Gift oder … als suchte sie jemanden.
Dieser Gedanke traf Avartos wie ein Pfeil. Er fuhr herum, achtete nicht auf die Marktbesucher, die er dabei zu Boden stieß, und auch nicht auf die Flüche, die ihm nacheilten. Diese Kälte kam nicht von den Dämonen der Rarzedas und auch nicht aus den Schatten der Brak’ Az’ghur oder den Hinterhöfen dieser verdammten Stadt.
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