Die Chroniken der Schattenwelt: Angelos (German Edition)
eure Feinde es tun.«
Noemi hatte zu Boden gesehen, als Drengur das Wort ergriffen hatte. Seit jeher achtete sie ihn als mächtigen Krieger und Lehrer, und nun, da er sie getadelt hatte, glomm etwas wie Scham in ihren Zügen.
»Im Gegensatz zur Magie der Schatten setzt die Lichtlehre Grenzen«, begann Avartos. »Ihr Leitsatz lautet: Die Lehre dient der Sache, nicht dem Krieger. Niemals wird sie angewandt außerhalb des Weges zum Ziel, und niemals wird sie missbraucht, um egoistische Pfade zu beschreiten. Ritterlichkeit, Ehre, Mut, Ergebenheit sind die Säulen, auf denen sie errichtet worden ist, diese Tugenden gilt es einzuhalten und zu verteidigen, zu jeder Zeit. Ein Zuwiderhandeln gegen diese Grundsätze wird in meinem Volk schwer geahndet und nicht selten mit dem Tod bestraft – mit einem qualvollen Tod übrigens, denn man wird in jenem Licht verbrannt, das man sträflich missbrauchte.«
»Sehr freundlich, dass du uns die Qualen eines Todes im Feuer der Engel beschreibst«, murmelte Noemi. »Du vergisst wohl, dass unser Volk seit Jahrhunderten versucht, diesem Licht zu entgehen. Wir kennen die Schmerzen in seinem Glanz nur allzu gut.«
Nando schaute zu Drengur hinüber, doch trotz des Zorns in Noemis Stimme schwieg er. Zu nah war der Tod ihres Bruders, um ihre Worte nicht begreifen zu können. Avartos hingegen lächelte ein wenig, aber zu Nandos Erstaunen fand er nicht den üblichen Spott darin, sondern eine seltsam verhangene Traurigkeit. »Nein«, erwiderte er und es schien, als spräche er zu sich selbst. »Du weißt viel, Kind der Schatten, aber du wirst niemals erahnen, welches Leid es gibt inmitten dieses Lichts.«
Noemi sah auf, und für einen winzigen Moment schien es, als bräuchten sie nur die Hände auszustrecken, um die Mauer zwischen ihnen einzureißen. Doch dann wandten sie sich ab, gleichzeitig, als würden sie sich für diesen Blickwechsel schämen.
»Grundlage der Lehre des Lichts«, fuhr Avartos fort, »ist der Oreymon, in eurer Sprache etwa Der Raum jenseits : jenseits der Versuchung, jenseits der Schatten, jenseits der Verdorbenheit. Bevor ihr eure Kräfte im goldenen Glanz erproben könnt, müsst ihr diesen Raum in euch erschaffen. Begebt ihr euch in sein Zentrum, werdet ihr die Welt in vielerlei Hinsicht mit den Augen eines Engels sehen, und ihr werdet euch verteidigen können mit der Kraft meines Volkes. Keine andere Macht wird euch so gut vor den Schatten schützen wie das Licht, doch es wird nicht leicht für euch sein, den Weg der Engel zu gehen. Ihr müsst dazu bereit sein, sonst werdet ihr scheitern.«
Schweigend schaute er zu Noemi hinüber, doch sie erwiderte seinen Blick nicht. Sie hatte sich abgewandt, und Nando wusste, dass sie an ihre Eltern und ihren Bruder dachte, die im Krieg der Engel ermordet worden waren. Seine Hand wanderte zum Knauf seines Schwertes, sanft strich er über den funkelnden Rubin. Wie oft hatte er sich in letzter Zeit gewünscht, Silas’ Platz einnehmen zu können, wie ein Bruder an Noemis Seite zu stehen, unabänderbar und für immer. Doch erst jetzt, da er vorsichtig aufstand und sich neben sie setzte, spürte er, dass er diesen Platz schon längst innehatte – seit sie sich gegenseitig das Leben retteten. Sie erwiderte seinen Blick, doch in Gedanken, das spürte Nando, ging sie noch einmal mit Silas über die Schwarze Brücke, sah ihn noch einmal an ihrem Bett wachen im Dunkeln, legte noch einmal eine Rose auf sein Grab. Silas, der immer alles getan hatte, um das Volk der Nephilim zu schützen. Er hatte sein Leben dafür gegeben – und nicht weniger würde sie tun, wenn es nötig war. Sie lächelte nicht, als sie Avartos ansah, doch sie nickte kaum merklich.
»Dann beginnen wir«, sagte der Engel. »Schließt eure Augen.«
Nando tat, was Avartos verlangte, und spürte gleich darauf die kalten Finger des Engels sacht über seine Lider streichen. Noemi fuhr neben ihm zusammen, aber sie gab keinen Ton von sich.
Begebt euch in eure Magie , hörte er Avartos’ Stimme in seinen Gedanken.
Nando schwebte in seiner eigenen Finsternis. Unwillkürlich musste er daran denken, wie Antonio im Senat Bantoryns seine magischen Kräfte erweckt hatte, und er lächelte, als er die Flamme zu sich rief, die ihn bald darauf einhüllte. Wärme durchfloss ihn, während die Feuertöne seiner Magie ihn umspielten. So vertraut war sie ihm geworden, dass es ihm schien, seine Erweckung läge bereits Jahre zurück. Es kostete ihn kaum mehr als einen Gedanken, um zu dem
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