Die Chroniken der Schattenwelt: Angelos (German Edition)
Feindkontakt kam, war es gut, einzelne Krieger hier zu stationieren. Sie waren bewaffnet und konnten Teile der Gänge mit Flammen oder Eiswinden fluten, wenn es nötig war.«
Noemis Augen wurden schmal. »Wenn es nötig war«, sagte sie kühl. »Du meinst, wenn Nephilim in ihnen unterwegs waren.«
Ehe Avartos antworten konnte, steckte Kaya den Kopf aus der Geige. »Seht euch das an«, murmelte sie und sprang zu dem Portalkreis hinüber. Die Funken flackerten auf, kaum dass sie die Hand nach ihnen ausstreckte, und farbige Linien bildeten ein filigranes Muster im Stein. Nando konnte die Kraft dieses Kreises fühlen wie die Wärme der Sonne und den Strom des freien Windes. »Er führt in die Oberwelt«, sagte er und sah zu Avartos hinüber. »Meinst du nicht, dass es langsam Zeit wird, uns in deinen Plan einzuweihen? Du hast doch einen Plan, oder?«
»Wir werden uns nach Nhor’ Kharadhin begeben«, erwiderte der Engel ruhig. »Dort werden wir mit meinem Vater sprechen, der uns sagen wird, wo wir Hadros finden. Anschließend machen wir uns auf den Weg zum mächtigsten Krieger meines Volkes, um von ihm das Schwert und den Schlüssel der letzten Höllenkreise zu erlangen, und dann … «
Noemi schnaubte verächtlich. »Wir spazieren also einfach mal so durch die Engelstadt, quatschen eine Runde mit dem Weißen Krieger und gehen wieder, als hätten wir gerade einen Ausflug ins Grüne gemacht? Das kann nicht dein Ernst sein!« Sie schüttelte den Kopf. »Wir müssen uns irgendwie in die Stadt schleichen, uns verstecken und … «
Da lachte Avartos auf. »Niemand schleicht sich ungestraft in die Hauptstadt. Königin Anlorya herrscht nicht ohne Grund über mein Volk. Es heißt, kein falscher Schritt bleibt ihr verborgen, und was wollt ihr tun, wenn sie euch erwischt? Wählen, ob sie euren Leib mit ihren Klauen zerreißt oder ihn mit einem einzigen Blick verbrennt? Beides habe ich schon gesehen. Glaubt mir, wenn ich sage, dass es angenehmere Arten gibt zu sterben.«
»Aber wie sollen wir uns dann in Nhor’ Kharadhin bewegen?« Nando breitete die Arme aus. »Sieh uns nur an, jeder Engel würde sofort merken, dass wir Nephilim sind, und dann … «
Ein Blitzen in Avartos’ Augen unterbrach ihn. »Du hast recht. Und das wäre euer Tod. Doch ihr werdet nicht als Nephilim nach Nhor’ Kharadhin ziehen, um euch in den Gassen zu verbergen. Ihr werdet die Goldene Stadt durchschreiten – als Engel.«
Damit öffnete er die Truhe und warf verschiedene Kleidungsstücke auf die Pritsche. Kaya sprang auf die Matratze und zog einen Mantel aus grauem Leder hervor. Goldene Stiche zierten die Schulterklappen, und auf dem Rücken war das Wappen Nhor’ Kharadhins eingenäht. Unverkennbar handelte es sich um einen Waffenrock für einen Rekruten der Königlichen Garde.
»Aber … «, begann Nando, doch Avartos hob spöttisch die Brauen.
»Ich weiß«, sagte er. »Ihr seid keine Engel. Dein Gesicht verrät jedes deiner Gefühle im Handumdrehen, und Noemis Augen durchdringen Fleisch und Stein, von den Fluchzeichen unter ihrer Haut einmal ganz abgesehen. Unter gewöhnlichen Umständen würde kein Sklave des Lichts auf die Maskerade hereinfallen, ganz zu schweigen von der Königin selbst oder einem Engel wie dem Weißen Krieger.« Ein Schatten zog über Avartos’ Gesicht bei diesem Namen, dicht gefolgt von glühendem Trotz. »Doch ihr werdet nicht allein nach Nhor’ Kharadhin reisen. Ihr seid in Begleitung des Ersten Offiziers Ihrer Majestät. Lange Wochen befand er sich in Gefangenschaft der Dämonen, doch nun ist ihm endlich die Flucht gelungen, und nicht nur das: Er konnte zwei starke junge Engel aus ihren Klauen befreien, die sich gerade in der aktuellen Situation ausgezeichnet für eine Laufbahn in der Garde eignen würden.« Er hielt inne, das Lächeln auf seinen Lippen wurde schmal. »Mein Wort zählt vor der Königin«, sagte er dunkel. »Und vergesst eines nicht: Es gibt kein anderes Geschöpf auf dieser Welt, das sich besser auf Tarnung versteht als ein Engel, und niemand übertrifft meine Meisterschaft. So ist es schon immer gewesen.«
Noemi zog die Schultern an. Nando wusste nicht, ob auch sie in diesem Moment an Paolo dachte, an den modrigen Keller irgendwo in Rom, in dem Avartos ihn erschlagen hatte. Er selbst erinnerte sich gut an die Erzählung des Engels, wie er in Bhroroks Gestalt in der Dämmerung ausgeharrt und mit seinem Possenspiel den Weg nach Bantoryn erfahren hatte, und er schauderte, als er das kalte Lächeln
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