Die Chroniken der Schattenwelt: Angelos (German Edition)
das Brüllen eines gefesselten Dämons aus einem tiefen Brunnenschacht hinaus.
»Nheray Karthem«, sagte sein Vater leise. »Schmerz der Schwarzen Nymphe. Es ist nicht klug, sich mit ihr anzulegen, auch nicht nach ihrem Tod. Ihre Macht liegt in den Scherben, und wenn sie entfesselt werden, richten sie ihre Strahlen … «
»… auf jeden Lebenspunkt«, flüsterte Noemi kaum hörbar. In ihrem Blick stand eine Faszination, die sie nicht zurückdrängen konnte.
Avartos bemerkte den Schimmer auf den Zügen seines Vaters, der ebenso Erstaunen wie Unwillen bedeuten konnte. So oder so verhieß er nichts Gutes, denn Kolkrinor war es nicht gewohnt, unterbrochen zu werden, und er umfasste Noemi mit einem Blick, der ihr kurzzeitig die Luft aus der Lunge presste.
»Verzeiht mir«, sagte Avartos schnell. »Diese beiden Rekruten sind mit mir aus den Schatten geflohen. Sie kennen kaum mehr als die Welt der Finsternis. Nun wird es Zeit, ihnen die Helden der Engel vorzustellen.«
Der Weiße Krieger entließ Noemi aus seinem Blick, und Avartos bedeutete ihr, augenblicklich zu Nando und Kaya hinüberzugehen.
»So bist du aus den Schatten geflohen, um mit mir über Legenden zu sprechen?«, fragte sein Vater, während er sich hinter seinem Schreibtisch niederließ, und schaute Avartos erstmals direkt an. Seine Augen waren kälter als jedes Licht dieser verfluchten Stadt.
»Ich entkam den Schatten, um Vergeltung zu üben«, erwiderte Avartos ruhig. »Und das werde ich tun.«
Kolkrinor griff nach der Feder, zögerte jedoch und legte stattdessen beide Hände vor sich auf den Tisch. »So sprich. Aus welchem Grund sucht der Erste Offizier dieser Stadt meinen Rat?«
In knappen Worten umriss Avartos den Plan, den er bereits der Königin vorgestellt hatte, und hielt dem Blick seines Vaters stand. »Geschwächt, wie wir sind, gibt es nur einen Jäger, der uns helfen kann, gegen die vier Reiter zu bestehen und den Sohn des Teufels zu töten«, sagte er abschließend. »Hadros Baldur Ragnarvar – der mächtigste Krieger unseres Volkes.«
Er konnte sich nicht daran erinnern, seinen Vater jemals so konzentriert beobachtet zu haben, doch selbst bei der Nennung dieses Namens regte sich nichts in dessen Gesicht.
»Das war er, in der Tat«, sagte Kolkrinor nach einer Weile. »Allein zog er gegen die Horden der Glühenden Steppe aus und brachte der Königin ihre Köpfe, er schlug die Flüche der Kerebrar zurück und unterwarf sie seinem Willen, und er erlangte die Zwölf Flammen ebenso wie die Meisterschaft über die Silbernen Raben. Er war es, der den Hexenmeister bezwang und Luzifer mit seiner eigenen Waffe verwundete, und er verschloss die Hölle mit seiner Macht, auf dass sie niemals wieder aufbreche.«
Avartos nickte unmerklich. »Doch eben dies ist nun geschehen. Die ersten vier Kreise der Hölle wurden befreit, und … «
»… wir werden ihrer Herr werden«, beendete Kolkrinor seinen Satz. »Das werden wir müssen, Avartos. Denn ich stimme dir zu: Hadros könnte uns beistehen in diesen Zeiten, doch auch ein Engel wie er kämpft nicht für immer. Er verließ den Weg der Jagd vor langer Zeit, wie es einem alten Krieger zusteht. Möge er gefunden haben, was er suchte, wo auch immer er nun ist.«
Avartos merkte, wie Nando hinter ihm die Muskeln anspannte, doch er selbst rührte sich nicht. »Dann wisst Ihr nicht, wo er sich jetzt aufhält?«
Sein Vater musterte ihn kalt. »Niemand weiß das«, erwiderte er spöttisch. »Ich selbst kämpfte Seite an Seite mit ihm in der Schlacht gegen Askramar, und kurz darauf verschwand er. Das solltest du wissen, mein Sohn, ich habe dich die Geschichte unseres Volkes selbst gelehrt.«
Avartos neigte den Kopf. Es fiel ihm nicht leicht, seine Fassade aufrechtzuerhalten. Verflucht, was hatte er sich gedacht? Hatte er tatsächlich geglaubt, sein Vater würde ihm ein Geheimnis verraten, das ihnen weiterhelfen würde? Er kannte diesen Engel seit seiner Geburt, er wusste, dass es keinen Krieger gab, der ihn an Geisteskälte übertraf – und warum gab er überhaupt so viel auf die Hirngespinste einer Wahrsagerin? Zorn flammte in ihm auf, und er hatte gerade beschlossen, auf schnellstem Weg den Rückzug anzutreten, um keinen Verdacht zu erregen, als Noemi seufzend die Luft ausstieß.
»Es muss großartig gewesen sein, an seiner Seite zu kämpfen«, sagte sie wie in Gedanken. Sie hatte den Platz an Nandos Seite verlassen und spazierte an den langen Reihen der Waffen vorüber.
»In Ghreokor, wo diese Klinge
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