Die Chroniken von Amarid 04 - Die Retterin des Landes
Gefühl verschwunden, und Melyor stand neben ihm und nahm den Blick ebenfalls in sich auf.
»Das ist so ziemlich die beste Aussicht auf das Nal, die ich je hatte«, sagte sie leise.
Orris nickte, aber er schwieg.
»Das Essen kommt gleich«, rief der Oberlord ihnen vom anderen Ende des Zimmers zu. »Möchtest du inzwischen ein Glas Wein, Orris?«
»Ja, gerne«, erwiderte der Magier über die Schulter hinweg. »Es tut mir Leid, dass ich heute früh nicht ehrlich war«, sagte Melyor im Flüsterton. Orris fragte sich, ob sie tatsächlich nicht wollte, dass Cedrych sie hörte, oder ob es Teil eines weiteren Tricks war.
»Du hattest also tatsächlich schon von Amarid gehört.« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.
»Ja.«
»Warum hast du dann so getan, als wäre das nicht der Fall?«
»Ich weiß es nicht. Ich denke...« Sie brach ab, schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht«, sagte sie abermals.
Orris sah sie an. Sie beobachtete ihn, und in ihren hübschen grünen Augen stand eine verlockende Verwundbarkeit. Ich bin hier allein mit zwei Fremden, dachte er in diesem Augenblick, und ich weiß wirklich nicht, wer von beiden gefährlicher ist. »Ich wünschte, ich wüsste, ob ich dir glauben kann«, sagte er, wandte sich ab und ging wieder in die Mitte des Zimmers.
Cedrych wartete dort mit einem Glas Weißwein auf ihn. »Setzt dich bitte«, sagte der Oberlord und reichte ihm den Wein. Orris nickte zum Dank und ließ sich in einem großen, bequemen Sessel nieder. Cedrych setzte sich auf eine Couch, die auf der anderen Seite des niedrigen Glastischs stand, und Melyor entschied sich für einen weiteren Sessel, der genau so aussah wie der, in dem Orris Platz genommen hatte.
Der Magier trank einen Schluck von dem Wein, der sich als leicht und trocken und, wie er zugeben musste, sehr gut erwies.
»Schmeckt er dir?«, fragte Cedrych.
»Ja, er ist hervorragend.«
Der Oberlord grinste. »Das meiste, was unsere Keltereien produzieren, ist furchtbar, aber ein paar leisten recht gute Arbeit. Und es gibt eine«, fügte er hinzu und wies mit seiner schlanken Hand auf sein eigenes Glas, »die wirklich hervorragende Weine liefert. Jedes Jahr am Lontag schicke ich dem Herrscher ein Dutzend Flaschen.«
»Was kannst du mir über den Herrscher erzählen?«, fragte Orris in der Hoffnung, lässig zu klingen.
»Durell?«, fragte Cedrych achselzuckend. »Er ist ein anständiger Mann und ein fähiger Anführer.«
»Das klingt nicht gerade begeistert.«
Cedrych sah ihn längere Zeit mit seinem einzelnen Auge an. »Wenn du erwartest, dass ich behaupte, er sei der weiseste und stärkste Herrscher, den das Nal je hatte«, erklärte er mit überraschender Offenheit, »dann kann ich das leider nicht tun. Er tut seine Pflicht - sogar ziemlich gut - und er hat bisher keine Fehler gemacht, die Bragor-Nals Stellung in Lon-Ser schaden könnten. Im Augenblick dient das den Zwecken von uns Oberlords. Aber ich möchte keine Vorhersagen darüber machen, wie lange er im Amt bleiben wird.«
Orris nippte erneut an seinem Wein. »Bist du derjenige, der über die Dauer seiner Amtszeit entscheiden wird?«
»Das kann passieren«, antwortete Cedrych, lächelte undurchschaubar und trank ebenfalls einen Schluck.
Die drei saßen einige Zeit schweigend da und sahen einander nur aus dem Augenwinkel an, bis schließlich Cedrychs Gardisten mit dem Essen kamen und sie in ein großes Esszimmer gingen. Wie das Wohnzimmer hatte auch dieser Raum einen silbergrauen Teppich von einer Wand zur anderen und ein riesiges Fenster mit einer wunderbaren Aussicht auf das Nal. Tisch und Stühle waren aus dunklem, fein gemasertem Holz. Anizir setzte sich auf die Rückenlehne eines leeren Stuhls neben Orris, schloss sofort die Augen und schlief ein.
Die Mahlzeit bestand aus Braten, einem angenehmen, wenn auch leicht bitter schmeckenden Salat, den Orris nicht kannte, und gedämpftem Wurzelgemüse, das ihn an die Bergwurzeln erinnerte, die in Tobyn-Ser häufig gegessen wurden.
»Nun erzähle mir, Orris«, sagte Cedrych, »da wir jetzt wieder höflich miteinander sprechen, wieso du nach Bragor-Nal gekommen bist.«
Orris hatte gerade eine Gabel zum Mund gehoben, aber er hielt inne und legte die Gabel auf den Teller zurück. Anizir spürte wohl seine plötzliche Anspannung, wachte auf und flatterte auf seine Schulter zurück. »Ich bin als Botschafter meines Volkes hier«, begann er vorsichtig, »und ich suche Antworten auf einige Fragen, die wir bezüglich gewisser
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