Die Chroniken von Amarid 04 - Die Retterin des Landes
Du nimmst an, dass der Rat dir helfen kann, weil er die höchste offizielle Autorität des Landes darstellt.« Er schüttelte den Kopf. »Lon-Ser ist ein großes Land, Orris; ein solches Land lässt sich nicht leicht von einer einzelnen Stelle aus beherrschen. Der Rat kontrolliert nicht alles, was hier geschieht. Manchmal wissen seine Mitglieder nicht einmal, was wirklich los ist.« Er hielt inne, aß ein Stück Fleisch und spülte es mit Wein hinunter. »Das magst du vielleicht nicht verstehen, da du aus einem Land kommst, wo Menschen, die nicht dem Orden angehören, nicht die Macht oder den Einfluss haben, auf ihre Welt einzuwirken. Aber hier braucht man kein Herrscher zu sein, um Macht und Mittel zu haben.«
Der Falkenmagier hob das Glas und freute sich zu sehen, dass seine Hand noch vollkommen ruhig war. »Du scheinst viel über meine Welt zu wissen, Cedrych«, sagte er. »Warum eigentlich?«
Der Oberlord zuckte die Achseln. »Wie ich schon sagte, man braucht kein Herrscher zu sein, um über Möglichkeiten zu verfugen.«
»Ich habe nicht gefragt, wie, sondern warum.«
»Ja, ich weiß«, meinte Cedrych mit großem Genuss.
»Nun, wenn es stimmt, was du über die Herrscher sagst«, begann Orris nach kurzen Schweigen wieder, »was würdest du mir raten?«
Cedrych spreizte die Finger ein wenig. »Du hast mir so wenig darüber verraten, wieso du hier bist. Ich kann dir nur schwer sagen, wie du vorgehen solltest. Wenn du mir vielleicht mehr erzählen würdest...«
Orris grinste und schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Dann versuche ich mein Glück lieber mit dem Herrscherrat.«
Cedrychs Gesicht schien zu Stein zu erstarren. »Das kannst du gerne tun«, sagte er durch zusammengebissene Zähne. »Aber vergiss nicht, dass Bragor-Nal ein gefährlicher Ort sein kann. Besonders für Fremde.«
Orris hob die Hand und kraulte sanft Anizirs Kinn, aber er wandte den Blick nicht von dem narbengezeichneten Gesicht des Oberlords ab. »Drohst du mir etwa, Cedrych?« »Ich sage nur, bevor du ein Freundschaftsangebot abweist, solltest du über die Risiken nachdenken, und zwar nicht nur jene, die du selbst eingehst, sondern auch über mögliche Gefahren für alle, die von dir abhängen.« Orris brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass der Oberlord von Gwilym sprach. Er zeigte mit dem Finger auf das Herz des kahlköpfigen Mannes, als würde er seinen Stab auf ihn richten. »Wenn ihm irgendetwas zustößt... ich schwöre in Aricks Namen, dann bringe ich dich um!«
»Ich weiß wirklich nicht, wieso du dich so aufregst, Orris. Und ich weiß auch nicht, von wem du sprichst. Ich sagte nur... «
»Ich weiß genau, was du gesagt hast!«, erwiderte Orris, stand auf und griff nach seinem Stab, der an der Wand neben ihm lehnte. »Und ich sagte dir, wenn du auch nur versuchst, dem Steinträger etwas anzutun, werde ich dich umbringen! Es ist mir gleich, wenn ich dazu dieses Gebäude in Stücke zerlegen muss, ich werde dich umbringen!« Der Magier drehte sich abrupt um und ging auf die Tür zu, aber bevor er sie erreichte, hörte er Cedrych lachen. »Wenn du durch diese Tür da gehst, Zauberer, wirst du vollkommen allein sein. Niemand wird dir mehr helfen, und du wirst dich nirgendwo verstecken können, wo ich dich nicht finden kann.«
Orris blieb stehen, die Hand am Türgriff. »Du weißt wohl nicht so viel über Tobyn-Ser, wie du dachtest«, sagte er und war sich plötzlich Anizirs Krallen, die seine Schulter packten, sehr bewusst. »Ein Magier ist niemals allein.« Und damit öffnete er die Tür und ging.
3
W ie ich schon zuvor erklärte, beruht das Regierungssystem von Bragor-Nal auf dem systematischen Einsatz von Gewalt und der Angst, die sie bewirkt. Das Problem bei einem solchen System ist selbstverständlich, dass jene, die Gewalt anwenden, um Macht zu erlangen, ihren Status nur so lange genießen können, wie sie die Stärksten und Furchterregendsten bleiben. Ebenso, wie es immer noch eine weitere Welle gibt, die aus Ducleas Meer an den Strand rollt, wird es immer einen anderen geben, der mächtiger, tückischer oder geschickter mit einer Waffe ist. Das ist nur eine Frage der Zeit. Daher mag die Gewalt diesem System zwar eine gewisse Stabilität geben, droht aber auch ständig, alles ins Chaos zu stürzen. Dieses Paradox führt zu den beiden wichtigsten Wahrheiten im Nal. Die erste besagt: Vertraue niemandem. Und die zweite: Ganz egal, wie gut oder schlecht man heute dastehen mag, das Morgen ist vollkommen
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