Die Chroniken von Amarid 04 - Die Retterin des Landes
darüber gewartet, wer Savils Nachfolger als Nal-Lord des Zweiten werden sollte? Über ein halbes Jahr? Es kam ihm länger vor. Zunächst, direkt nach jener unglaublichen Nacht, als der Nal-Lord umgebracht wurde, waren es sechs gewesen, die um die Vorherrschaft kämpften. Aber bald schon waren nur noch zwei Bewerber übrig: Dob und ein drahtiger, dunkelhäutiger Mann namens Bowen.
Dob war Bowen vor Savils Tod vielleicht zwei- oder dreimal begegnet und hatte ihn sogar einmal kämpfen sehen. Er hatte nichts gegen den Mann, und er achtete ihn. Bowen war klug, und er war nicht schüchtern, wenn es darum ging, anderen seine Meinung zu sagen. Er war auch gut mit dem Messer und glich seinen Mangel an brutaler Kraft mit Schnelligkeit und Tücke aus. Der Kampf, den Dob gesehen hatte, war von Anfang an ungleich gewesen, trotz der Tatsache, dass Bowens Gegner größer und kräftiger gewesen war und eine erheblich bessere Reichweite gehabt hatte. Es war rasch zu Ende, und der größere Mann hatte tot in einer Blutlache gelegen.
Aber Dobs Respekt für seinen Rivalen hatte der Intensität, mit der er gegen Bowen kämpfte, keinen Abbruch getan. Wer von ihnen Nal-Lord werden würde, würde Status und Wohlstand erhalten, von denen nur die erfolgreichsten Gesetzesbrecher träumen konnten. Und daher sandten die Kontrahenten einen Attentäter nach dem anderen aus; sie schickten Männer ins Territorium des anderen, um dort Gefechte zu provozieren, und sie bestachen die anderen Gesetzesbrecher, die beim Kampf um die Vorherrschaft zurückgefallen waren, um ihre Unterstützung und ihre Leute zu gewinnen. Den gesamten Herbst und Winter und bis ins Frühjahr hinein war es nun so gegangen. Ein paarmal sah es so aus, als würde einer die Oberhand gewinnen, aber dann entglitt ihm der Vorteil wieder. Erst vor ein paar Wochen hatte Dob sich eingeredet, er hätte gesiegt, aber eine Reihe von Rückschlägen, die ihren Höhepunkt in einer Nacht koordinierter Hinterhalte und Anschläge fanden, nach der elf seiner Männer tot waren, hatte ihn empfindlich geschwächt. In den letzten Tagen hatte er zurückgeschlagen und Bowen einigen Schaden zugefügt, aber er war gerade erst wieder dabei gleichzuziehen und noch nicht ganz dort angekommen.
All das ließ Cedrychs unerwartetes Auftauchen auf dem Sprechschirm noch beunruhigender werden. »Wie du weißt, Dob«, sagte der Oberlord feierlich, »habe ich den Zweiten Bezirk gut im Auge behalten. Trotz eurer Exzesse habt ihr beiden, du und Bowen, euch als einfallsreich, zäh und mutig erwiesen, und das sind alles Qualitäten, die ich bei meinen Nal-Lords schätze. Jeder von euch würde den Posten gut ausfüllen, da bin ich sicher.«
Dob nickte aufmerksam und versuchte sich zusammenzunehmen. Aber er wusste genau, was jetzt kam. Oder zumindest glaubte er es zu wissen.
»Leider allerdings«, fuhr Cedrych fort, »habe ich entschieden, den Zweiten an Bowen zu geben. Ihr habt beide viele Männer verloren, und ich will keine weiteren Verluste sehen. Wenn ihr euren Konflikt fortsetzt, wäre das ... kontraproduktiv. Und im Augenblick würdest doch sicher auch du zugeben, dass Bowen dir um einiges voraus ist.« »Nicht unbedingt!«, widersprach Dob. »Wenn du mir noch eine Woche Zeit gibst, Oberlord, bin ich sicher -«
»Ich bin ebenfalls sicher, Dob«, unterbrach ihn der einäugige Mann. »Aber ich will der Sache ein Ende machen. Und außerdem habe ich einen anderen Auftrag für dich im Sinn.«
Dob starrte skeptisch den Schirm an. »Einen anderen Auftrag?«, fragte er tonlos.
»Ja. Das sind die guten Nachrichten, die ich zuvor erwähnt habe.« Der Oberlord hielt inne und gestattete sich ein Lächeln. »Dob, wie würde es dir gefallen, Nal-Lord des Vierten zu werden?«
Dob schwieg längere Zeit. Er starrte einfach nur den Schirm an, als hätte Cedrych plötzlich angefangen, in einer fremden Sprache zu reden.
»Dob?«, fragte Cedrych schließlich. »Bist du noch da?« »J-ja, Oberlord«, antwortete er. »Selbstverständlich.«
»Hast du eine Antwort für mich?«
»Der Vierte ist Melyors Bezirk.«
»Danke, Dob«, erwiderte der Oberlord gereizt. »Das hätte ich ohne deine Hilfe nie erfahren.«
»Tut mir Leid«, brachte der Gesetzesbrecher errötend heraus. »Ich habe nur ... ich habe gehört, dass ... ich habe gehört, dass Jibb sich jetzt um den Vierten kümmert.« »Und das hast du von jemandem gehört, der verlässlicher ist als ich?«
Dob schloss die Augen und fuhr sich durch das dunkle, wirre Haar.
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