Die Chroniken von Amarid 05 - Der Adlerweise
gewesen. Ihre Gespräche waren plötzlich angestrengt und verlegen geworden. Früher einmal hatte Melyor ganz offen mit Jibb über beinahe alles sprechen und ohne nachzudenken scherzen können, aber nun nahm sie sich stets zusammen, weil sie ihn nicht noch mehr kränken wollte und ihm auf der anderen Seite auch keinen Anlass geben wollte zu glauben, dass sie es sich anders überlegt hatte. Sie war zutiefst erleichtert über seine Entscheidung, weiterhin General der SiHerr zu bleiben, aber sie wusste ohne jeden Zweifel, dass die Tage unbeschwerter Freundschaft vorüber waren. Sie sah ihn jeden Tag, und dennoch fehlte er ihr ebenso, wie ihr ihr Vater fehlte. Manchmal, wenn sie über logistische Angelegenheiten oder über die Strategien für die nächste Sitzung des Herrscherrats sprachen, konnte Melyor sich beinahe überreden anzunehmen, dass ihre Beziehung irgendwann einmal wieder so sein würde, wie sie angefangen hatte, als sie ihr Hauptquartier in ihrer Wohnung noch im Vierten Bezirk gehabt hatte. Aber als sie nun inmitten der Glassplitter stand, die den Boden ihres Schlafzimmers bedeckten, und Rauch in ihren Augen brannte, kam es Melyor so vor, als wäre die Kluft zwischen ihr und Jibb so weit und tief wie Aricks Meer.
»Der Sprengkörper ist von Hand ausgelöst worden«, sagte Jibb mit tonloser Stimme, »und offensichtlich von jemandem, der eine SiHerr-Uniform trug. Er ist bis zur Palasttreppe gekommen, bevor meine Männer ihn bemerkt haben. Sie haben ihn getötet, aber es ist ihm noch gelungen, die Bombe zu zünden.«
Melyor nickte. Das war eine alte, aber wirkungsvolle Taktik. Man pumpte einen Attentäter mit Drogen voll, die ihm seinen Willen raubten, schnallte ihm Sprengstoff um, verkleidete ihn und schickte den armen Menschen in den Tod, in der Hoffnung, dabei auch das eigentliche Ziel des Anschlags zu erledigen. Cedrych, der einmal Oberlord des Ersten Herrschaftsbereichs von Bragor-Nal gewesen war, war auf diese Weise beinahe getötet worden, und er war für den Rest seines Lebens von den Narben dieses Mordversuchs gezeichnet gewesen. Und allein im vergangenen Jahr hatte Melyor vier solcher Anschläge überlebt. Jetzt sind es fünf, sagte sie sich und wurde sich erneut des Schnitts an ihrer Wange und des Zitterns ihrer Hände bewusst.
Sie und Jibb hatten keine Ahnung, wer hinter diesen Anschlägen steckte. Nach dem ersten Versuch hatten sie gehört, dass Enrik, einer von Melyors Oberlords, dafür verantwortlich war. Als Jibbs Leute Enrik verhörten, gab er seine Schuld zu und wurde ins Gefängnis geworfen. Aber die Angriffe gingen weiter - nach allem, was Jibb gehört hatte, hatten die vier Attentäter dieselbe Art Sprengstoff und dieselbe Art Hülle benutzt. Das und die Ähnlichkeiten in der Taktik überzeugten sowohl Jibb als auch Melyor, dass dieselbe Person hinter all den Anschlägen stehen musste. Nach dem letzten Attentatsversuch hatte Jibb Enrik ein zweites Mal verhört, aber obwohl der Oberlord zugab, dass er seine Anweisungen von einem anderen erhalten hatte, und dazu mehr als genug Gold, um ihn zu motivieren, war doch alles durch Mittelsleute geschehen. Jibb hatte alle Methoden eingesetzt, die ihm zur Verfügung standen - selbst jetzt schauderte Melyor unwillkürlich, wenn sie daran dachte, um welche Methoden es sich gehandelt haben musste -, um Enrik dazu zu bringen, seine Mitverschwörer zu verraten, aber der Oberlord hatte ihm nichts gesagt.
»Er kann nicht viel Schmerz ertragen«, hatte Jibb damals gesagt, »also nehme ich an, dass er es wirklich nicht weiß.« Wer könnte so etwas tun?, fragte sich Melyor nun, wie schon so häufig im vergangenen Jahr. Sie wusste, es fehlte ihr nicht an Feinden. Sie schaute ihren Stab mit dem leuchtenden roten Stein an und lächelte traurig. Als Herrscherin war sie ein natürliches Ziel für Attentate. Trotz all der Veränderungen, die sie in Bragor-Nal herbeigeführt hatte, konnte sie einen wesentlichen Grundzug des Regierungssystems des Nal nicht ändern: Friede und Stabilität tendieren eher dazu, die Aufstiegsmöglichkeiten einzuschränken. Die Gewalttätigkeit im Nal, die Melyor und Jibb so angestrengt einzudämmen versuchten, hatte eine ganz praktische Seite. Sie ermöglichte es Gesetzesbrechern, Nal-Lords zu werden, und Nal-Lords konnten zu Oberlords aufsteigen. Und wenn diese Gewalttätigkeit das Leben eines Herrschers kostete, wie vor sieben Jahren, als Cedrych Herrscher Durell in ebendiesem Zimmer hier ermordet hatte, wirkte sich das auf das
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