Die Chroniken von Amarid 05 - Der Adlerweise
Gewissens anderswo als im Falkenfinderwald schlafen. Auf seltsame Weise hatte sie das Gefühl, es Marcran schuldig zu sein.
»Danke«, sagte sie. »Aber ich bin ganz sicher. Ich werde aber bald wieder vorbeikommen, das verspreche ich dir.« »Also gut, meine Liebe«, sagte Linnea und küsste sie noch einmal. »Arick behüte dich.«
»Dich ebenfalls, Älteste.«
Cailin drehte sich um und ging rasch vom Tempel weg. Wieder weinte sie, und ihre Tränen mischten sich mit dem kalten Regen. Sie schaute nicht zurück, obwohl sie wusste, dass Linnea ihr immer noch vom Tor aus nachsah. Ich weiß nicht, wie viel Zeit mir noch bleibt...
»Nicht auch noch sie«, flüsterte sie den Bäumen und dem Regen zu und spürte Marcrans Abwesenheit wie eine Wunde im Herzen. »Ich will Linnea nicht auch noch verlieren.« In der Ferne hörte sie das Geräusch von Holzfälleräxten, und sie erschauderte. Sie zog ihren Umhang fest um sich und warf einen Blick auf ihren blinkenden goldenen Ceryll. Irgendetwas geschah in Amarid, und sie wollte unbedingt wissen, um was es dabei ging.
Als sie sich der Liga angeschlossen hatte, war alles so viel leichter und klarer gewesen. Trotz des Regens musste sie grinsen. Wahrscheinlich war auch das eine Illusion gewesen, ebenso wie Erlands Großzügigkeit. Wie sie Linnea vor kurzem gesagt hatte: Sie war seit Kaera kein Kind mehr gewesen. Aber sie war jung gewesen und nur zu bereit,
Erland und seinen Versprechen zu glauben, nur zu bereit, dem Orden die Schuld an allen Schwierigkeiten des Landes zu geben. Der Orden hatte die Fremden hereingelassen. Der Orden hatte zugelassen, dass ihre Eltern starben. Alles andere war egal. Die Hüter, die sie nach dem Tod ihrer Eltern aufgezogen hatten, hassten den Orden ebenfalls. Linnea hasste den Orden und liebte Cailin beinahe so, wie ihre Mutter und ihr Vater das getan hatten. Erland hasste den Orden und hatte ihr einen Ceryll gegeben. Es war alles so einfach, so klar.
Nur, dass nun die Tempel die Wälder des Landes zerstörten, Erland sie wie eine Feindin behandelte und Linnea bald sterben würde. Und in Amarid, nur ein paar Meilen von hier, versammelten sich die Magier des Ordens in Reaktion auf einen Ruf des Eulenweisen. Der Orden war nicht ihr Feind - das war er nie gewesen. Cailin wusste das nun. Er war nicht mehr und nicht weniger als die Liga: eine Ansammlung von Männern und Frauen, die sich der Magie bedienten, die meisten mit den besten Absichten und alle fehlbar. Sie hatte das nur langsam begriffen, und es hatte die Verarbeitung ihrer Vergangenheit noch schwieriger gemacht. Einem Teil von ihr war es immer noch egal; sie wollte wieder elf Jahre alt sein. Sie sehnte sich nach dieser Klarheit. Aber ein anderer Teil wusste es besser. Wenn sie tatsächlich eines Tages die Liga fuhren und Erland beweisen wollte, dass er sie nicht mehr ignorieren konnte, musste sie die Zweifel und Unklarheiten akzeptieren, die dazu gehörten, erwachsen zu werden.
»Ich bin kein Kind mehr«, hatte sie der Ältesten gesagt. Also gut. Dann war es an der Zeit, die Welt nicht mehr durch Kinderaugen zu sehen.
Der Weg, auf dem sie sich befand, mündete in eine Holzfällerstraße, und Cailin wandte sich spontan nach Norden. Es gab Fischerdörfer an der Küste hinter dem Falkenfinderwald. Warum sollte sie nicht dort ihre Dienste anbieten, so eingeschränkt sie im Augenblick auch sein mochten? Wieder musste sie an Marcran denken, und ihre Augen brannten bei der Erinnerung an sein schimmerndes Gefieder, an seinen anmutigen Flug. Aber dann erinnerte sie sich daran, was Linnea gesagt hatte, bevor sie den Tempel verließ. Die Götter haben eine wichtige Bindung für dich vorgesehen. Und ich denke, es wird bald geschehen. Cailin blieb stehen, und in diesem Augenblick wusste sie, dass ihr neuer Vogel hier war, an dieser Straße, und sie beobachtete. Plötzlich schlug ihr Herz so heftig, dass sie sogar sehen konnte, wie ihr Umhang sich bewegte. Sie spürte die Gegenwart des Vogels, als würde er bereits auf ihrer Schulter hocken, und sie versuchte, sich auf das vorzubereiten, was geschehen würde, sobald ihr Blick dem seinen begegnete. Sie erinnerte sich immer noch an ihre Bindung an Marcran, als wäre es gestern geschehen. Damals hätte sie sich beinahe in dem Strudel von Erinnerungen und Emotionen verloren, die er ihr übertragen hatte. Aber das war Jahre her. Sie war nur ein Kind gewesen und hatte sich mit der Magie nicht ausgekannt. In den Jahren seitdem hatte sie sich daran gewöhnt, ihre
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