Die Chroniken von Amarid 05 - Der Adlerweise
-, musste Melyor unwillkürlich an ihrer Erinnerung bezüglich des Gesprächs von vor ein paar Tagen zweifeln. Als sie an diesem Tag ihren Sprechschirm abgeschaltet hatte, war sie überzeugt gewesen, dass es ihr gelungen war, Wiercias Vertrauen zumindest bis zu einem gewissen Grad zu gewinnen. Es würde noch einige Zeit dauern, bis sie zu Verbündeten wurden, das wusste sie, und vielleicht würde sie sich mit Wiercia nie so gut verstehen wie mit Shivohn. Aber sie hatte das Gefühl, dass sie bei ihrem Gespräch eine Übereinkunft erreicht hatten. Und dennoch, als sie nun der Tirade von Oerella-Nals neuer Herrscherin lauschte, während die Brandung von Aricks Meer draußen vor dem Fenster an den Strand rollte, fragte sie sich, ob sie sich das alles vielleicht nur eingebildet hatte.
Ja, sie hatten davon gesprochen, Marar glauben zu lassen, dass es ihm gelungen war, einen Keil zwischen die Matriarchie und Bragor-Nal zu treiben. Wenn es das war, was Wiercia hier tat, dann war sie eine verdammt gute Schauspielerin.
»Ich bin vielleicht neu in eurem kleinen Rat«, sagte die hoch gewachsene Frau, und ihr scharlachrotes Gewand raschelte, als sie sich an der abgelegenen Wand umdrehte und wieder auf den Tisch zukam, an dem Melyor und Marar saßen. »Aber ich werde nicht gestatten, dass man Oerella- Nal schikaniert! Bragor-Nal wird eine angemessene Strafe für seine Verbrechen akzeptieren, oder wir werden uns gezwungen sehen zurückzuschlagen! Meine Legatinnen stehen dabei vollkommen hinter mir, Herrscherin!«, sagte sie mit blitzenden Augen zu Melyor. Ihre Wangen waren rot, ihre Gesten fahrig. »Wenn Bragor-Nal Krieg wünscht, bei den Göttern, dann werdet ihr eben einen Krieg bekommen!« Sie wandte Marar ihren glühenden Blick zu.
»Vielleicht glaubst du, dass Stib-Nal aus einem solchen Konflikt Gewinn ziehen könnte, Marar! Aber jede Einmischung von deiner Seite - jegliche Einmischung - wird von der Matriarchie als Kriegserklärung betrachtet werden!«
Melyor warf Stib-Nals Herrscher einen Seitenblick zu und stellte fest, dass er sie bereits anschaute und dass ein dünnes Lächeln um seine Mundwinkel zuckte. So selbstzufrieden hatte sie ihn noch nie zuvor gesehen: Er saß nicht vornübergebeugt, wie üblich, und seine Schultern sahen nicht ganz so schmal aus.
Du Mistkerl, dachte Melyor. Shivohn ist tot, und du glaubst, dass du gewonnen hast.
Sie schaute wieder Wiercia an, aber die andere Herrscherin hatte sich bereits umgedreht und stolzierte wieder von ihnen weg.
»Hast du denn überhaupt nichts zu sagen, Melyor?«, wollte Wiercia nun mit einem Blick über die Schulter wissen. »Oder willst du dich weiterhin hinter diesen schamlosen Lügen verstecken, die du seit Shivohns Tod meinen Legatinnen erzählt hast?«
Es war ein Anfang, ob Wiercia es nun so geplant hatte oder nicht, und Melyor blieb gar nichts anderes übrig, als mitzuspielen. »Vielleicht sollten wir es Marar überlassen zu beurteilen, was ich zu sagen habe, Herrscherin«, erklärte sie mit eisigem Lächeln. »Was die Matriarchie als Lügen abtut, findet bei den guten Bürgern von Stib-Nal vielleicht Gehör.«
Wiercia blieb stehen, drehte sich um und starrte Melyor unergründlich an.
Melyor, den Blick weiter auf die hoch gewachsene Frau gerichtet, holte den Zünder der Bombe heraus, die im Goldpalast explodiert war, und warf ihn auf den Tisch. »Das hier gehörte zu einem Sprengkörper, der mich um ein Haar getötet hätte. Wie du sehen kannst«, fügte sie mit einem Seitenblick zu Marar hinzu, »wurde er in Oerella-Nal hergestellt.«
»Wann fand dieser Angriff statt?«, fragte Marar, der sich nicht die Mühe machte, seine Erheiterung zu verbergen. »Zufällig«, antwortete Melyor und beobachtete ihn genau, »geschah es am gleichen Tag, an dem Shivohn starb.« Nun grinste der Herrscher von Stib-Nal übers ganze Gesicht, als könnte er seine Freude an all dem Unheil, das er angerichtet hatte, nicht mehr unterdrücken. »Oh, da hattet ihr beide ja wirklich zu tun«, sagte er und schaute von einer zur anderen.
Wiercia machte einen Schritt vorwärts und zeigte mit dem Finger auf Marar. »Ich habe überhaupt nichts getan! Dieser Zünder beweist gar nichts!«
»Er beweist nicht mehr und nicht weniger als der Zünder, den du bei der Bombe gefunden hast, die Shivohn getötet hat!«, entgegnete Melyor. »Entweder oder, Wiercia! Wenn Bragor-Nal schuldig ist, dann auch die Matriarchie!«
»Du vergisst einen wichtigen Unterschied, Melyor«, entgegnete die Frau.
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