Die Chroniken von Amarid 05 - Der Adlerweise
»Du hast überlebt. Wie willst du das erklären?«
Melyor schluckte. Wiercia war wirklich eine hervorragende Schauspielerin. Zumindest hoffte sie, dass es nur Theater war. »Ich nehme an, ich hatte einfach Glück.«
Wiercia stieß ein schrilles, freudloses Lachen aus. »Glück? Und du erwartest, dass wir das glauben?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich halte es für viel wahrscheinlicher, dass du
Shivohn hast umbringen lassen und dann den Anschlag auf dein eigenes Leben inszeniert hast, um uns zu verwirren.«
»Ich muss sagen«, warf Marar ein, der immer noch grinste, »so sieht es für mich eigentlich auch aus.«
Melyor schaute Wiercia an und versuchte, ihre Reaktion abzuschätzen. Und was sie bemerkte, ließ ihr das Blut gefrieren. Die hellen Augen der Herrscherin blitzten triumphierend, und sie hatte ein wildes, beutegieriges Lächeln auf den Lippen.
Melyor spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Was war mit ihrem Gespräch? Was war aus ihrer gemeinsamen Erkenntnis geworden, dass es Marar war, der den größten Gewinn aus einem Konflikt zwischen ihren Nals ziehen würde?
»Marar, würdest du uns bitte einen Augenblick entschuldigen?«, brachte sie mühsam heraus. Ihr Mund war trocken geworden. »Herrscherin Wiercia und ich brauchen ein wenig Zeit, um das gemeinsam durchzuarbeiten.«
»Ich kann dir sogar noch mehr entgegenkommen, Melyor«, erklärte der Mann aalglatt. »Ich gebe euch alle Zeit, die ihr braucht.« Er stand auf und ging auf die Tür zu.
»Ich brauche nicht mit dieser Verbrecherin allein zu sein!«, tobte Wiercia, den Blick wieder auf Melyor gerichtet. »Alles, was du und ich einander zu sagen haben, kann auch vor dem vollständigen Rat geschehen. Du hast es schon einmal versucht, Melyor. All diese Versuche von dir, dich mittels des Sprechschirms mit mir in Verbindung zu setzen, hätten mir deine Absichten vollkommen deutlich machen sollen! Ich lasse mich nicht manipulieren, und ich werde mich nicht einschüchtern lassen!«
Zu spät erkannte Melyor, dass sie sich geirrt hatte. Es war alles Schauspielerei gewesen. So unglaublich es schien, Wiercia tat nur, was sie abgesprochen hatten. Noch während sie sich selbst im Geist einen Tritt versetzte, weil sie es nicht eher erkannt hatte, musste Melyor unwillkürlich lächeln. Wiercia war wirklich begabt. Sogar begabter als sie selbst.
Wiercia starrte Melyor noch einen Augenblick lang zornig an, dann wandte sie sich Marar zu. »Bitte bleib, Herrscher«, sagte sie freundlich. »Die Bevölkerung von Oerella-Nal würde gerne deine Ansicht über diese Angelegenheit hören.«
»Das ist sehr freundlich von dir, Wiercia«, antwortete Marar. »Aber es scheint mir offensichtlich zu sein, dass dieser Disput nichts mit den Menschen von Stib-Nal zu tun hat.« Er lächelte und zuckte die Schultern. »Ich würde nur im Weg sein, wenn ich bliebe.« Er warf Melyor einen Blick zu. »Herrscherin«, sagte er mit einem knappen Nicken.
Einen Augenblick später war er verschwunden. Wiercia und Melyor starrten einander an, aber sie schwiegen, bis sie hörten, wie Marars Lufttransporter über den uralten Palast hinwegflog.
»Du dumme Kuh!«, sagte Wiercia - nein, sie schrie Melyor praktisch an. »Was hast du dir nur dabei gedacht?«
Melyor zuckte die Achseln. »Ich war nicht sicher, was ich denken sollte«, gab sie zu. »Bei allem, was du gesagt hast -« »Ich habe genau das getan, was du von mir wolltest! Ich dachte, du wolltest Marar davon überzeugen, dass es ihm gelungen ist, uns gegeneinander aufzuhetzen!«
Melyor grinste.» Das wollte ich ja auch. Ich habe nur nicht begriffen, dass du so gut bist.«
Wiercia starrte sie einen Augenblick lang an. Dann schüttelte sie den Kopf und lachte leise. »Nun, lass dir das eine Lektion sein, Herrscherin: Unterschätze niemals mich und mein Volk.«
»Ich werde versuchen, daran zu denken.«
»Gut.« Die hoch gewachsene Frau lächelte, und dann setzte sie sich hin. »Und was machen wir jetzt?«
»Wir warten. Angesichts deiner hervorragenden Vorstellung glaube ich nicht, dass wir lange warten müssen.« Wiercia nahm das Kompliment mit einem Nicken entgegen. »Was, glaubst du, wird Marar als Nächstes tun?«
»Ich nehme an, er wird sich mit einer von uns in Verbindung setzen und im Austausch für eine exorbitante Belohnung ein Bündnis anbieten.«
Wiercia zog die Brauen hoch. »Ja, aber mit welcher?« Melyor dachte darüber nach. »Das hängt von verschiedenen Dingen ab. Er muss darüber entscheiden, welche von uns ihm
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