Die Chroniken von Amarid 05 - Der Adlerweise
Shivohn zu töten. Und wenn ich so nahe dran war, dich umzubringen, kann ich es auch wieder versuchen. Aber solche Dreistigkeit wäre vielleicht ein wenig voreilig gewesen. »Bitte vergiss nicht, dass wir uns immer noch im Reich der Hypothesen bewegen«, sagte er stattdessen.
Sie nickte und machte eine ungeduldige Geste, als wollte sie ihn drängen weiterzusprechen.
»Was meine Ziele angeht«, fuhr er fort, »so sollten sie dich nicht sonderlich schockieren. Ich will Reichtum, und ich will Macht.«
»Du verfügst bereits über beides«, sagte sie. »Du bist Herrscher von Stib-Nal. Du bist niemandem Rechenschaft schuldig, und zweifellos bringt deine Stellung dir jede Menge Gold ein.«
Er nickte. »Das mag stimmen, Melyor, aber ich will dich eins fragen: Würde das, was ich habe, dich zufrieden stellen?«
»Wie bitte?«
»Du bist nun schon seit beinahe sieben Jahren Herrscherin von Bragor-Nal. Du weißt, was es bedeutet, die größte Armee des Landes zu kommandieren, dich als Herrscherin des größten Nal des Landes zu bezeichnen und den größten Schatz dein eigen zu nennen. Würdest du es gegen das, was ich habe, eintauschen?«
Sie zögerte, und Marar lächelte.
»Selbstverständlich nicht«, beantwortete er seine eigene Frage. »Das würde ich auch nicht tun, wenn ich an deiner Stelle wäre.« Er beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf die Armlehnen seines mit Schnitzereien verzierten Stuhls. »Aber ich bin nicht in deiner Position, nicht wahr? Ich habe nicht alles, was du hast. Ich habe nicht einmal, was Wiercia hat. Nicht einmal annähernd.«
»Es geht hier also nicht wirklich um Macht oder Gold, nicht wahr, Marar?«
Nun war es an ihm zu zögern. »Ich kann dir nicht folgen.« »Hör dir doch bloß zu«, erklärte sie beunruhigend gleichmütig. »Dich interessieren Gold und Einfluss nicht. Du bist nur eifersüchtig. Du willst, was wir haben. Das hast du wahrscheinlich immer schon gewollt, aber du hattest nie zuvor die Mittel, es zu erreichen.«
»Das ist doch lächerlich!«, sagte er.
»Ach ja? Aber es kommt mir so vor, als wäre es eine hervorragende Erklärung für den Mord an Shivohn und die Bombe im Goldpalast.« Sie lächelte dünn. »Es gefällt dir vielleicht, geheimnisvoll und kompliziert zu tun, aber am Ende bist du ein Kind. Du willst alles, was deine Spielkameraden haben, und wenn das nicht möglich ist, dann suchst du dir neue Freunde.«
»Wie kannst du es wagen!«, zischte er. »Was glaubst du eigentlich, mit wem du sprichst?«
Ihr Lächeln verschwand, und sie starrte zornig auf den Schirm. »Ich spreche mit dem Mann, der versucht hat mich umzubringen und der gegen mehr Paragraphen des Vertrags vom Sternenkap verstoßen hat, als ich auch nur wissen möchte! Es wäre sowohl nach diesem Vertrag als auch nach der Grünen Erklärung mein Recht, morgen in Stib-Nal einzumarschieren. Oder Wiercia und ich könnten dich einfach aus dem Rat entfernen. Treib es nicht zu weit, Herrscher!«
Er setzte dazu an, mit einer eigenen Drohung zu reagieren. In diesem Augenblick wollte er nichts mehr als sie umbringen. Aber stattdessen widerstand er dem Drang, zu viel zu verraten. Er schloss den Mund wieder und versuchte sich zu fassen.
Melyor schien ohnehin seine Gedanken zu lesen. Sie streckte den Arm aus und hatte einen Augenblick später ihren Stab mit dem leuchtend roten Stein in der Hand. »Falls du vorhast, es noch einmal zu versuchen, Marar«, warnte sie, »solltest du wissen, dass man Gildriiten nur selten zweimal überraschen kann.«
»Danke für den Rat«, brachte er hervor. Er streckte die Hand nach dem Knopf aus, um das Gespräch zu beenden. »Ach, sind wir schon fertig?«, fragte sie.
Er starrte sie an. Seine Hand verharrte über dem Knopf. Er wusste, sie hatte ihn aus dem Gleichgewicht gebracht. Wäre dies ein Kampf gewesen, wäre er jetzt tot. Aber sie hatte immer noch viel zu bieten: ihr Wissen über Cedrychs Pläne, Tobyn-Ser zu erobern, ihre Verbindung zu den Zauberern dort und - so entfernt diese Variante im Augenblick auch schien - all die anderen Möglichkeiten, die sich aus einem Bündnis zwischen Bragor-Nal und Stib-Nal ergeben könnten.
»Du wolltest doch nicht ohne Grund mit mir sprechen, oder, Marar?«, fragte sie. »Wir haben immer noch viel zu diskutieren.«
Langsam zog er die Hand zurück und sah sie einige Zeit lang an. »Was zum Beispiel?«, fragte er schließlich.
Sie lächelte nachlässig, als wäre er wirklich ein Kind und sie eine gutmütige Mutter. »Sag du es
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