Die Chroniken von Araluen - Die Belagerung: Band 6 (German Edition)
gerade verzehrt habt?«
Er deutete auf das leere Frühstücksgeschirr, das noch abgeräumt werden musste, und Alyss wurde klar, dass er recht hatte. Sein Auftauchen mit dem Kaffee hatte sie misstrauisch gemacht, doch sie hatte bisher jede Mahlzeit verzehrt, ohne sich weitere Gedanken zu machen.
»Wahrscheinlich«, gab sie zu. Wieder deutete er auf den Stuhl und diesmal setzte sie sich.
Er goss ihr eine Tasse ein und bedeutete ihr zu trinken. Zögernd nahm sie einen Schluck. Der Kaffee war genauso ausgezeichnet, wie Keren gesagt hatte. Und offensichtlich nichts weiter als Kaffee. Sie verspürte keinerlei beunruhigende Nebenwirkung. Dennoch ließ sie sich mit dem zweiten Schluck Zeit.
Keren lächelte. »Trinkt meinetwegen Schluck für Schluck, wenn Ihr Euch damit besser fühlt. Ihr traut mir wohl überhaupt nicht über den Weg?«
Alyss erwiderte sein Lächeln nicht. »Ihr habt Euren Treueschwur gebrochen«, sagte sie. »Niemand wird Euch je wieder trauen. Nicht einmal die Skotten.«
Für einen Moment sah sie in seinen Augen, wie sehr ihn ihre Worte trafen, und ihr wurde klar, dass Keren sehr wohl wusste, welchen Preis er für sein Handeln zahlen würde. Er war künftig ein Ausgestoßener und hatte ganz Araluen gegen sich – Menschen, deren Vertrauen und Respekt er über die Jahre hinweg gewonnen hatte, waren von nun an seine eingeschworenen Feinde. Menschen, die er nicht einmal kannte, würden in Zukunft seinen Namen schmähen.
Und seine neuen Kameraden konnten die alten nicht wirklich ersetzen, denn auch sie würden ihm nie wirklich vertrauen. Ein Mann, der seinen Eid gebrochen hat, der einmal zum Verräter wurde, kann es jederzeit wieder tun. Keren wusste das, denn er kannte die Sorte Männer, die er um sich geschart hatte. Männer wie John Buttle. Keren würde seinem Stellvertreter nie vertrauen. John Buttle oder Sir John, wie er sich gerne nannte, würde nur so lange an Kerens Seite stehen, so lange er davon einen Nutzen hatte. Sobald er woanders einen Vorteil für sich sähe, würde er ihn verraten.
Keren hatte leider zu spät gemerkt, dass er selbst wie Buttle geworden war: nicht vertrauenswürdig. Er hatte gegen alle Werte verstoßen, in deren Geist er erzogen worden war. Und wodurch hatte er sie ersetzt?
Deshalb war er jetzt auch hier, wurde es Alyss plötzlich klar. Er hatte nichts mit seinen Untergebenen und Anhängern gemein. Sie konnten ihm nichts bieten, keine angenehme Gesellschaft, keine Anregung, kein Vergnügen.
Verblüfft erkannte Alyss, was der Grund für Kerens heutigen Besuch war.
Er war allein. Noch schlimmer: Er war einsam. Sie betrachtete ihn neugierig und ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf. Vielleicht gab es eine Möglichkeit, das scheinbar Unausweichliche abzuwenden und weitere Verluste an Menschenleben zu verhindern.
»Es ist nicht zu spät«, versicherte sie und stützte sich
auf ihren Ellbogen ab, um sich nach vorne zu beugen und in seine Augen zu sehen. »Ihr könnt das Ganze immer noch beenden.«
Er wich ihrem Blick aus.
»Ich kann nicht mehr zurück«, entgegnete er. »Ich kann nur weiter den Weg gehen, den ich gewählt habe.«
»Das ist lächerlich!«, rief sie aus. »Es ist nie zu spät, einen Fehler zuzugeben. Macht Ihr Euch wegen Buttle Sorgen? Er würde es nicht wagen, sich mit Euch anzulegen. Dieser Mann ist ein Feigling.«
Er lachte rau. »Wegen Buttle mache ich mir keine Sorgen. Wegen keinem der Halunken, die er rekrutiert hat. Aber Ihr habt es selbst gesagt, ich bin ein Eidesbrecher. Wer würde mir noch vertrauen?«
»Nun«, gab sie zu, »Euer Leben wird sicher nicht mehr wie früher sein. Ihr habt einen Fehler gemacht und es könnte Jahre dauern, bis Ihr ihn wiedergutgemacht habt. Doch wenn Ihr den eingeschlagenen Weg jetzt verlasst und erneut Eure Treue gegenüber Araluen bezeugt, dann wärt Ihr zumindest nicht für den Rest Eures Lebens ein Ausgestoßener.«
Er antwortete nicht, aber sie sah, dass er nachdachte, also wagte sie sich noch etwas weiter vor.
»Keren, Ihr erwartet einen General der Skotten …« Sie hielt inne, als er sie plötzlich misstrauisch ansah, und machte eine abfällige Handbewegung. »Ach, um Himmels willen, ich bin doch nicht blöde!«, fügte sie ungeduldig hinzu. »Einer Eurer Männer machte kürzlich
eine entsprechende Bemerkung.« Keren entspannte sich, als er sich an die Gelegenheit erinnerte, und Alyss fuhr fort. »Schickt ihn wieder weg. Sagt ihm, die Sache ist abgeblasen. Oder haltet ihn einfach hin, bis wir
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