Die Chroniken von Araluen - Die Belagerung: Band 6 (German Edition)
nächtlichen Angriff?«, fragte Will. »Wäre das nicht mit weniger Männern zu schaffen?«
Horace schüttelte den Kopf. »Wir benötigen trotzdem genügend Leute, damit Kerens Soldaten bei der Verteidigung der Burg nicht wissen, wo genau wir wirklich angreifen. Ob nachts oder am Tag, das macht keinen Unterschied. Wir brauchen einfach mehr Männer als die Gegenseite zur Verfügung hat.«
Seit der Besprechung am Vormittag in Malcolms Hütte beratschlagten sie nun schon. Doch bis jetzt hatten sie keine Lösung gefunden. Die beiden Freunde hatten daraufhin beschlossen, zum Waldrand zu reiten, um sich die Burg genauer anzusehen. Vielleicht konnten sie so mögliche Schwachstellen in der Verteidigung herausfinden.
Ihre Pferde hatten sie im Wald gelassen und waren nun zu Fuß im Schutz der Bäume am Waldrand unterwegs, von wo aus sie die Burg genau im Blick hatten. Da Will die örtlichen Gegebenheiten von seinem gescheiterten
Versuch, Alyss zu retten, schon recht gut kannte, näherten sie sich auch dieses Mal der Burg von der östlichen Seite und gingen dann im Unterholz in Deckung. Die Burg war nun etwa sechs- bis siebenhundert Fuß von ihnen entfernt.
Will zupfte an einem welken gefrorenen Grashalm, der aus dem Schnee spitzte.
»Musst du unbedingt so ablehnend sein?«, seufzte er. »Manchmal hilft es schon, wenn man nicht so festgefahren denkt.«
Horace drehte sich langsam zu ihm. Diese Bewegung war Will vertraut.
»Ich bin weder ablehnend noch festgefahren«, widersprach Horace. »Ich zähle nur die Tatsachen auf.«
»Gut, dann lass uns doch noch ein paar andere Dinge aufzählen«, schlug Will vor.
»Du kannst bestimmte Tatsachen nicht einfach außer Acht lassen, nur weil sie dir nicht gefallen, Will«, sagte Horace und in seiner Stimme schwang leise Ungeduld mit. »Tatsache ist, die Erstürmung einer Burg erfordert eine sehr sorgfältige Vorbereitung. Es gibt dafür Regeln und Vorgehensweisen, die auf jahrelangen Erfahrungen beruhen. Wenn wir eine Burg stürmen wollen, benötigen wir eine größere Anzahl von Männern als die Verteidiger. Das steht fest, ob es dir nun gefällt oder nicht.«
»Ich weiß, ich weiß«, antwortete Will unwirsch. »Ich habe einfach den Eindruck, dass es noch etwas
anderes geben muss, als bloß zu sagen: Wir brauchen dreimal so viele Männer wie die Verteidiger …«
»Besser viermal so viele«, warf Horace ein.
Will winkte ungeduldig ab. »Dann eben viermal so viele. Haben wir die, werden wir die Schlacht gewinnen, sonst nicht. Aber das lässt doch jegliche Kriegslisten außer Acht und beschränkt alles nur auf Zahlen. Was ist mit Einfallsreichtum und Erfindungsgeist? Die gehören doch auch zu einem Schlachtplan, oder?«
Horace zuckte mit den Schultern. »Das ist dein Fachgebiet, nicht meines.«
Ja, so ist es, dachte Will. Die Leute wandten sich an die Waldläufer, wenn es um Einfallsreichtum und Erfindungsgeist ging. Doch er scheiterte bereits an der Frage, wie sie in die Burg gelangen sollten. Na, ich bin ja ein toller Waldläufer!, dachte er bitter.
Was ihn am meisten störte, war das unbestimmte Gefühl, es gäbe da tatsächlich eine Lösung, die in seinem Kopf herumspukte, die er aber einfach nicht zu fassen bekam. Sie stand in Zusammenhang mit irgendetwas, was er in den letzten Tagen gesehen oder gehört hatte, aber er kam einfach nicht darauf, was es war.
»Tja, eines steht jedenfalls fest«, sagte Horace. »Wenn wir angreifen, dann sicher nicht von dieser Seite aus.«
Will nickte. Hier war zu viel freies Feld zu überqueren. Sobald die Angreifer den Wald hinter sich gelassen hatten, waren sie von den Wachen der Burg gut zu sehen.
Ein Angriff von dieser Seite hätte keinerlei Überraschungsmoment. Bis sie die Mauern erreichten, hatten sie vielleicht schon ein Drittel ihrer Leute durch gegnerische Bogenschützen verloren.
Als hätte Horace seine Gedanken gelesen, nahm er die Gelegenheit wahr, seine Einwände noch einmal vorzubringen.
»Noch ein Grund, warum wir zahlenmäßig überlegen sein müssen«, sagte er. »Wir verlieren eine Menge Männer, wenn wir so übers offene Feld müssen wie hier.«
Will nickte düster.
»In Ordnung«, sagte er. »Ich habe verstanden.«
Er blickte hoch zu Alyss’ Turmfenster und kniff die Augen zusammen, um es genauer zu sehen. Der schwere Wandteppich, mit dem der Wind abgehalten wurde, war zurückgezogen, und das Fenster war ein schwarzes Rechteck im grauen Mauerstein. Will meinte, etwas Weißes aufblitzen zu sehen, so als ob
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