Die Chroniken von Araluen - Die Belagerung: Band 6 (German Edition)
als Ausrede ab. Will fand keine passende Antwort darauf, also ließen sie das Thema fallen.
Insgesamt war es eine verwirrende und unangenehme Situation für den jungen Waldläufer. Er blieb jetzt vor Alyss’ Tür stehen und überlegte, ob er nicht noch lieber einen Tag warten sollte. Dann beschloss er, dass er dadurch das Unvermeidliche nur aufschob, und klopfte an der Tür, energischer, als er es beabsichtigt hatte.
»Herein!«
Seine Aufregung wuchs, als er ihre Stimme hörte. Er öffnete die Tür und trat ein.
Alyss saß in ihrem Bett, nahe dem Fenster, wo sie einen schönen Blick auf die umliegende Landschaft hatte. Der letzte Schnee klammerte sich stur an die Baumspitzen und glitzerte im Sonnenschein. Sie drehte den Kopf und lächelte ihn an.
»Will! Wie schön, dich zu sehen!«
Sie trug ihr glänzendes blondes Haar offen. Will fand, dass sie müde aussah, aber erfreut, ihn zu sehen. Er trat ans Bett. Ein Lehnstuhl stand daneben und er setzte sich. Sie streckte die Hand aus und nahm seine Hände. Es war eine ganz natürliche Geste, dachte er bei sich. Eine Geste zwischen Freunden.
»Wie geht es dir?« Seine Kehle war trocken und die banalen Worte schienen ihm fast im Hals stecken zu bleiben.
»Mir geht es gut. Ich bin nur noch ein wenig müde.«
Er nickte und hatte keine Ahnung, was er als Nächstes sagen sollte.
»Ich habe Tausende von Fragen«, seufzte sie. »Ich hatte die verrücktesten Träume.« Sie verdrehte vielsagend die Augen. »Ich möchte alles wissen, was in dieser Nacht im Turm passiert ist.«
Er betrachtete sie aufmerksam. »Du erinnerst dich an gar nichts?«
Will entging ihr kurzes Zögern nicht, ehe sie antwortete. Es war nur kurz, aber er war sich sicher, dass er sich nicht täuschte.
»Nicht wirklich«, sagte sie.
Da wusste Will, er hatte recht mit dem Zögern. Sie erinnerte sich – aber sie wollte es nicht zugeben.
Alyss war genauso verwirrt wie Will. Sie hatte tatsächlich wilde Träume gehabt. Sie hatte geträumt, dass sie wieder im Turm waren und sie ihm etwas Furchtbares antun wollte, als er ihr plötzlich aus heiterem Himmel sagte, dass er sie liebte. Diese Worte von ihm zu hören, danach hatte sie sich länger gesehnt, als sie denken konnte. Doch sie wusste nicht, ob der Traum etwas zeigte, was wirklich geschehen war, oder etwas, was sie sich wünschte.
Sie sahen sich jetzt unsicher an, beide nicht bereit, sich zu erklären.
Er zuckte mit den Schultern.
»Vielleicht sollten wir damit warten, bis du bei Kräften bist«, schlug er vor.
Sie betrachtete ihn aufmerksam. »War es so schlimm?«
Ein düsterer Ausdruck trat in seine Augen, als er sich an diese schrecklichen Sekunden erinnerte.
»Ja. Das war es, Alyss. Aber wie ich dir in der Nacht schon sagte: Du hast mein Leben gerettet. Und das ist das Einzige, was zählt.«
Es herrschte lange Stille.
»Irgendwelche Neuigkeiten aus Norgate?«, fragte sie. Sie spürte, dass er erleichtert war, als die Unterhaltung sich einem allgemeinen, unverfänglichen Thema zuwandte.
»Unsere Späher meinen, sie werden in etwa zehn Tagen hier sein.«
»Was ist mit den Skotten?«, fragte sie. Schließlich waren sie die unmittelbare Bedrohung, und sie waren näher als die Streitkräfte aus Norgate.
Doch Will zuckte mit den Schultern. »Ich bezweifle, dass sie kommen. Du weißt, dass wir MacHaddish freigelassen haben, oder?«
Bei dieser Neuigkeit setzte sie sich aufrechter hin. »Freigelassen? Wessen Idee war das denn?«
»Meine, ehrlich gesagt. Alle anderen haben auf meinen Vorschlag genauso reagiert wie du.«
»Aber …«, begann sie, doch er fiel ihr ins Wort.
»Wir brachten ihn zuerst hierher und zeigten ihm, dass die Burg in der Hand der Nordländer ist. Einige von Ormans eigenen Soldaten sind zurückgekehrt. Das haben wir ihm gezeigt und ihm außerdem noch gesagt, dass Verstärkung aus Norgate unterwegs ist. Erst dann haben wir ihn freigelassen.«
Er erwähnte nicht, dass er MacHaddish noch auf die Seite genommen und ihm ein persönliches Versprechen gegeben hatte: Wenn ihr Skotten hierher zurückkommt, bist du der Erste, den ich mir vornehme. Den General hatte diese Drohung zwar nicht eingeschüchtert, aber er wusste, sie war ernst gemeint und als Warnung gedacht.
»Also…«, sagte Alyss nachdenklich, »er wird berichten, dass Macindaw wieder in Feindeshand ist und wahrscheinlich eine härtere Nuss als vorher.«
»Genau. Nordländer sind viel schwierigere Gegner als ein normaler Landsoldat. Sie kennen sich bestens
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