Die Chroniken von Araluen - Die Belagerung: Band 6 (German Edition)
klarzubekommen. Irgendwie, das wusste sie, war das alles ihre Schuld. Sie hatte Will in diese Gefahr gebracht. Jetzt musste sie ihn retten. Sie brauchte eine Waffe … irgendeine Waffe. Sie schwankte, doch sie riss sich zusammen. Und auf einmal wusste sie, wo sie eine Waffe fände. Mit zwei schnellen Schritte war sie am Fenster. Sie nahm die Waffe und schlich sich an Keren heran, der Will in die Ecke getrieben hatte und dessen Schwertspitze jetzt auf Wills Kehle zeigte. Das Sachsmesser lag auf dem Boden, Keren hatte es Will mit einem mächtigen Schwerthieb aus der Hand geschlagen.
Will wartete auf den tödlichen Stoß. Da sah er Alyss hinter Keren.
»Alyss! Lauf weg!«, schrie er. »Hol Horace!«
Keren drehte sich um. In diesem Moment schüttete sie ihm den Inhalt der Lederflasche ins Gesicht.
Sein Aufschrei ging durch Mark und Bein, die Säure brannte auf Haut und Augen wie Feuer. Der Schmerz
war unerträglich. Keren ließ das Schwert fallen und schlug die Hände vors Gesicht. Ziellos stolperte er umher und schrie laut und schrill. Alyss sah erschrocken zu, wie Keren tobte. Dann fühlte sie Wills Arm um sich.
Es roch entsetzlich nach versengtem Fleisch. Kerens Bewegungen wurden immer abgehackter. Er war heiser vom Schreien und einmal streckte er die Hände aus, um sein Gleichgewicht wiederzufinden. Gleich darauf umklammerte er wieder sein verätztes Gesicht. Er fiel gegen eine Wand, stieß sich ab, lief ein paar Schritte, verlor erneut das Gleichgewicht und taumelte nach hinten.
Auf das Fenster zu.
Er fiel mit dem Rücken gegen die Gitterstäbe und einen Augenblick lang hielten sie ihn. Dann gaben die von der Säure zerfressenen Metallstücke nach und brachen weg. Keren fuchtelte wild mit den Armen und versuchte, sich an der Mauer festzuhalten. Er stieß mit den Kniekehlen gegen das niedrige Fenstersims, verlor vollends das Gleichgewicht und fiel ins Bodenlose.
Sein langgezogener Schrei, eine Mischung aus Schmerz und Todesangst, war fürchterlich anzuhören. Dann hörte er abrupt auf.
Alyss drehte sich aufgewühlt zu Will. »Was ist geschehen?« , fragte sie ganz verwirrt. Sie betrachtete den verwüsteten Raum. Tisch und Stühle waren umgestürzt, das Schwert lag auf dem Boden, gleich daneben die leere Lederflasche. Ihr Kopf schwirrte, wurde überflutet
mit Bildern, die so absurd und unwahrscheinlich waren, dass sie nicht wusste, ob sie ihnen trauen konnte.
Will lächelte. Er zog sie an sich und drückte ihren Kopf an seine Schulter.
»Du willst wissen, was geschehen ist?«, wiederholte er ihre Frage. »Ganz einfach. Du hast gerade mein Leben gerettet – zum zweiten Mal.«
Er küsste sie sanft auf die Stirn, denn er spürte, wie durcheinander sie war. Doch sie machte sich aus seiner Umarmumg frei und sah ihn an.
»Zum zweiten Mal?«, fragte sie. »Wann war denn das erste Mal?«
Will lächelte sie an und sagte nur: »Das ist nicht so wichtig.«
W ill klopfte leise an die Tür zum Krankenzimmer, hörte Malcolms Ruf »Herein« und trat ein.
Der Heiler war über Trobar gebeugt, der auf vier Strohmatratzen in einer Ecke auf dem Boden lag. Es gab kein Bett in der Burg, das groß genug für ihn gewesen wäre, also musste er auf Matratzen liegen, bis er stark genug war, zur Lichtung des Heilers zurückzukehren.
Malcolm drehte sich um und lächelte Will an. »Guten Morgen!«
»Guten Morgen! Wie geht es dem Patienten?«
Malcolm wiegte den Kopf hin und her, bevor er antwortete. »Viel besser, als ich dachte. An dem Blutverlust, den er erlitten hat, könnten glatt zwei Menschen sterben. Der Himmel weiß, wie er überlebte.«
»Vielleicht hatte er einfach Blut für drei Menschen in sich«, sagte Will. »Groß genug ist er ja.«
Er lächelte Trobar an. Der Riese sah schwach aus und blasser als sonst, doch er verzog den Mund bei Wills Scherz. Seine Augen waren klar – und das war
viel besser als sein starrer, fiebriger Blick, als man ihn nach der Schlacht vom Festungswall getragen hatte.
Will hörte ein vertrautes Klopfen auf dem Boden. Er drehte sich um und sah Shadow in der anderen Ecke liegen. Ihre Schnauze ruhte auf ihren Vorderpfoten, doch ihrem Blick entging nichts, was sich im Raum abspielte.
»Guten Morgen, Shadow«, sagte er, und die Hündin klopfte wieder mit dem Schwanz.
»Ist es in Ordnung, einen Hund im Krankenzimmer zu haben?«, fragte Will Malcolm.
Der Heiler lächelte vielsagend.
»Ich bin sogar der Meinung, es ist unbedingt nötig«, antwortete er. »Die beiden haben mich halb
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