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Die Chroniken von Blarnia

Die Chroniken von Blarnia

Titel: Die Chroniken von Blarnia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Gerber
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hinunter und dann am Fluss entlanglief, verwünschte Ed die Hippies dafür, dass sie sich so wenig an der frischen Luft aufgehalten hatten. Seine Sergeant-Pepper-Jacke schimmerte zwar wunderschön im Mondlicht, aber zum Warmhalten taugte sie nicht viel.
    Obwohl ihm der Atem gefror, sobald er nur den Mund aufmachte, probte Ed unterwegs ein paar Aufreißsprüche. »Hi! Ich war gerade in der Gegend...« Konnte man das sagen? Nein! Sie würde wissen, dass er log. »Sie haben doch gesagt, ich sollte mal vorbeikommen und Sie besuchen.« Das würde auch nicht funktionieren. So hatte sie es nicht gesagt, und außerdem würde es die Frage aufwerfen, warum er allein war,
    obwohl sie ihn ausdrücklich gebeten hatte, seine beknackten Geschwister mitzubringen. Vielleicht sollte er einfach ganz direkt sein. »Wollen Sie... vielleicht... mit mir gehen?« Als Ed das sagte, brach seine Stimme ein wenig, und in seiner Brust begann sich ein beklemmendes Schamgefühl breit zu machen. Irgendwo in der Ferne schrie eine Eule. Es klang wie ein Lachen. *
    »Das wird doch nie was!«, sagte Ed wütend. »Sie wird sich über mich lustig machen!«
    Er schaute sich um. Das Haus der Biberinnen war nicht mehr zu sehen. Und er hatte solchen Hunger... Ed beschloss, einen Zahn zuzulegen. Um sich Mut zu machen, begann er an all die Dinge zu denken, die er und »Queenie« (das war der Kosename, den er sich für sie ausgedacht hatte) tun würden, wenn sie »miteinander gingen«. Eigentlich hingen alle in seinem Bekanntenkreis, die »mit jemandem gingen«, nach wie vor mit ihren alten Freunden herum, außer wenn die ganze Clique ins Kino ging oder nach der Schule bei einem von ihnen zu Hause Videospiele spielte. Pete prahlte immer damit, was er und seine Freundin, Victoria Françoise, alles getrieben hätten, als sie sich im Eurotunnel kennen lernten (sie war Französin). Aber Ed glaubte langsam, dass sie gar nicht existierte, vor allem seit er Pete dabei erwischt hatte, wie er sich mit dem Staubsauger einen Knutschfleck verpasste.
    Im Wald war es ziemlich unheimlich, und Ed hatte seine liebe Not, unterwegs seine Angst im Zaum zu halten. Das Mondlicht warf groteske Schatten - ein äußerst fruchtbarer Boden für die Einbildungskraft eines Jungen wie Ed. Immer wieder glaubte er zu sehen, dass sich im Wald etwas bewegte, was natürlich zu der Frage führte: Gab es in Blarnia Serienkiller? Wenn ja, dann waren es wahrscheinlich unglaublich schräge Gestalten, wie etwa ein Igel mit einer Eishockeymaske. Prompt sah Ed Frosch und Kröte als schwules Lustmörderpärchen vor sich. Er schauderte und versuchte, das Thema zu verdrängen, indem er sich laut fragte: »Ob die Feiste Hexe wohl Videospiele hat? Passen würde es zu ihr.« Doch seine Stimme klang so kleinlaut und mickrig, dass es ihm nur noch mehr Angst machte, sie zu hören.
    Inzwischen hatte Ed so viel Schnee in den Schuhen, dass kaum noch Platz war für seine Füße. Halb in der Erde verborgene Baumwurzeln, glitschige Blätter, spitze Zweige und sämtliche scharfkantigen Steine des Waldes schienen sich verschworen zu haben, ihn zu Fall zu bringen. Er spürte, wie seine Schenkel taub wurden, und plötzlich sah er sein Ende vor sich: Er würde hier draußen sterben. Zum Glück hatte Ed Reserven, von denen er nichts ahnte, vor allem einen immensen Hass auf die Welt, was den Körper im Notfall tagelang am Leben halten kann. Und so begann Ed, seine Geschwister zu verfluchen. Besonders Loo, die diese beschissene Welt überhaupt erst entdeckt hatte, aber auch Sue, weil sie sie daran gehindert hatte, gleich wieder aus dem Haus des Professors zu fliehen, und schließlich Pete, schon allein, weil er immer so verdammt energiegeladen und brutal war. Er wollte nicht sterben, ohne jemals ein Mädchen befummelt zu haben! Wäre das gerecht?
    Während er trübsinnig darüber nachdachte, welche Haltung er als Leichnam einnehmen sollte, um denjenigen, der ihn fand, so heftig wie möglich in seinem sittlichen Empfinden zu verletzen, folgte Ed einer Flussbiegung - und stand plötzlich vor dem Domizil der Feisten Hexe. Es war ehrlich gesagt ziemlich scheußlich. Gewiss, es war ein Schloss und strahlte eine gewisse bemühte Erhabenheit aus. Aber selbst im dramatischen Mondlicht wirkte es alles in allem eher wie ein etwas heruntergekommenes Mittelalter-Erlebnisrestaurant. Die Mauern waren von einem tristen, eintönigen Grau, und trotz der Dunkelheit konnte Ed erkennen, dass sie bloß aus Formbeton bestanden. Selbst die

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