Die Chroniken von Ninavel – Die Blutmagier
deinen Meister. Er hat dich aufgezogen und ausgebildet, und du liebtest ihn, nicht wahr? Das habe ich in deinen Kindheitserinnerungen gesehen. Du hast ihn geliebt und dich nach seiner Anerkennung gesehnt. Sag mir, Kiran, was hat deine Liebe verwandelt? Was hat sie in Furcht und Hass umschlagen lassen?«
Nein. Kiran klammerte sich an das Sigillum, obwohl er nicht mehr wusste, warum das so wichtig war.
Magie stach ihm in die Brust. Simon zog Ruslans Zeichen mit blutigem Finger nach, immer und immer wieder. »Denk an den Moment, wo er dir dies Zeichen gab, wo er dich an sich band, wo du sein Eigentum wurdest. Denk daran zurück, Kiran …« Simon redete leise auf ihn ein, um seine Gedanken auf die Erinnerung zu lenken, während die Tentakel der Magie Kirans falsche Bilderketten auseinanderzureißen versuchten.
Kiran klammerte sich noch fester an das Sigillum. Nach einer unbestimmten Zeitspanne zogen sich die Tentakel zurück. Erleichterung durchströmte ihn. Er ließ locker, aber nicht ganz los.
Im selben Moment durchdrang ein Machtstrahl seinen Geist. Erschrocken tauchte Kiran aus seiner Benebelung auf und schnappte nach Luft, als ihm plötzlich sein schweißgebadeterKörper bewusst wurde und er Simons Gesicht sah, das mit dem Ausdruck eines Besessenen über seinem schwebte.
Und neben Simon sah er Iannis’ schmerzverzerrtes Gesicht. Simon hielt sie am Handgelenk fest und stahl ihr die Lebenskraft, bildete aus ihrer Ikilhia einen Rammbock, der Kirans Labyrinth durchstoßen und zu seinen wahren Erinnerungen vordringen sollte.
Simons Stöße erschütterten Kiran bis ins Mark. Mit aller Kraft hielt er seine Konzentration aufrecht. Würde er weiter Widerstand leisten, würde Iannis sterben … Aber wäre ihr Leben nicht ein hinnehmbares Opfer, wenn man bedachte, was auf dem Spiel stand? Es ging nicht mehr nur um eine Lawine und ein paar Hundert Tote, und die Greisin war auch nicht auf seiner Seite. Angesichts seiner Notlage hatte sie nicht das geringste Mitgefühl gezeigt, und sie war alt, würde sowieso bald sterben …
Wenn du jemanden sterben lässt, um diese Erinnerung nicht preisgeben zu müssen, ausgerechnet diese, dann verrätst du alles, woran ich geglaubt habe, sagte Alisa, deren Gesicht ihm plötzlich erschien. Sie blickte ihn vorwurfsvoll an. Töten, um sich einen Vorteil zu verschaffen, ist unrecht – oder hast du gelogen, als du das zu Ruslan sagtest? Bist du doch der Mörder, zu dem er dich machen wollte?
Iannis atmete kaum noch, ihr Gesicht sah wächsern aus. Und die Magie rammte gegen seine mentalen Mauern.
Ich bin kein Mörder, erwiderte Kiran im Geiste und stieß einen Schrei aus. Halb trotzig, halb bedauernd ließ er das Bild des Sigillums verblassen.
Simons Wille drang durch das bröckelnde Labyrinth in Kirans Gedächtnis vor.
Kiran stand im Dunkeln, noch blind und taub von Ruslans Zauber. Magie umschlang ihn, dass es ihn am ganzen Körper kribbelte. So viel Magie! So viel Kraft hatte er noch nie gefühlt.
D ie Augenbinde wurde ihm abgenommen. Die Taubheit blieb.
Auf dem Boden des Arbeitsraums lag ein komplexes Wirkmuster bereit. Hunderte silberner Linien wanden sich hin und her und umeinander und liefen auf die Mitte zu, wo er stand. Die nächsten leuchteten bereits dunkelrot und waren voller Kraft. Mikail stand mit ausgestreckten Armen und geschlossenen Augen auf dem Platz des Lenkers außerhalb des Wirkmusters. Er war vollkommen konzentriert und reglos wie eine Statue. Den Ankerstein des Musters konnte Kiran nicht sehen, da Ruslan vor ihm stand, aber er wusste, dass der Anker bei einem so machtvollen Zauber sehr schwer sein musste.
Ruslan tauchte einen dünnen Pinsel in eine Silberschale mit Blut und malte Kiran Sigilla auf Stirn und Arme. Kiran zuckte nicht. Seine Muskeln erstarrten unter den Kräften, die sich um sie legten. Ruslan trat einen Schritt zurück und betrachtete sein Werk, nickte zufrieden und trat erneut auf Kiran zu, diesmal um ihm die Robe zu öffnen.
Er zog einen silbernen Dolch, tauchte ihn in Blut und ritzte ein Sigillum in Kirans Brust. Es tat weh, aber Kirans Blick blieb fest auf Ruslan gerichtet. Der lächelte anerkennend und hob schließlich die Schale an Kirans Lippen.
Kiran trank. Mit der warmen, salzigen Schleimigkeit rann Magie brennend den Rachen hinab. Die Kräfte, die ihn umgaben, loderten höher auf und drängten mit einer Wucht nach innen, die ihm den Atem raubte.
Ruslan trat beiseite und gab den Blick frei auf den Anker des Zaubers,
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