Die Chroniken von Ninavel – Die Blutmagier
Wie hätte Alisa diese Reise begeistert! Sie hatte sich in die Tagebücher von Entdeckern vertieft und davon geträumt, als Gesandte ihrer Handelsfamilie zu reisen, wenn sie volljährig geworden wäre. Trauer und Schuld machten den Kloß in seinem Hals brennend heiß.
Die Stimmen draußen mahnten ihn zur Vorsicht. Hastig wischte er sich die Augen und setzte sich in dem Haufen von Decken auf. Verwirrt blinzelnd sah er Devs Zeug schon zu ordentlichen Bündeln gepackt. Warum hatte er ihn nicht geweckt? Er zog sich die Stiefel an und trat nach draußen.
Die Sonne stand schon hoch am Himmel, und das weiße Gestein der Schlucht leuchtete so grell, dass ihm die Augen tränten. Die Wagen standen in ununterbrochener Reihe da. Ein Grüppchen Kutscher saß in lockerer Runde plaudernd beieinander.
»He, Faulpelz!« Dev winkte ihm von dem Felsen aus zu, an dem die Plane befestigt war. »Dachte schon, du wirst gar nicht mehr wach.«
»Warum hast du mich nicht geweckt? Sagtest du nicht gestern Abend, dass wir Wasser schöpfen müssen, solange der Weg freigeräumt wird?« Hatte Dev den Morgen etwa mit der Suche nach einem Karkabonstein verbracht?
»Da ich ein so netter Kerl bin, habe ich das Wasser hergeschleppt. Mir schien, du hast den Schlaf nötiger. Außerdem dachte ich mir, du hättest genug davon, dich durch Katzenkrallen zu schlagen.« Devs Haltung war lässig, sein Grinsen unbeschwert, doch dabei musterte er ihn von Kopf bis Fuß mit einer abwägenden Neugier, bei der Kiran innerlich zurückschreckte.
»Äh, danke.« Er hatte Mühe, ein nichtssagendes Gesicht zu machen. Die Auswirkungen von Ruslans Gewitter waren keine angenehme Erinnerung. Sich einen Weg durch die harmlos aussehenden Büsche zu bahnen war albtraumhaft gewesen. Die dicken, fest verwobenen Zweige ließen sich nicht biegen und verursachten böse Kratzer, wenn man daran entlangstrich. Außerdem hatte seine Barriere kurz vor dem Zusammenbruch gestanden, und er hatte fürchten müssen, dass Dev ihn fände, ehe er sie wieder gefestigt hätte. Hätte Dev ihn beobachtet, wie er Kraft aus den Büschen zog, wäre ihm klar geworden, in welchem Ausmaß Kiran ihn belog.
»Keine Sorge, wir bleiben beschäftigt, jetzt wo du endlich aufgestanden bist.« Dev schaute an der Felswand hinauf und beschattete seine Augen. »Höchste Zeit, dass mein Lehrling sich ein paar Kletterkniffe aneignet.«
Aha. Falls Dev nach einem Karkabonstein gesucht hatte, war er nicht erfolgreich gewesen. Eine Kletterstunde war der beste Vorwand für einen zweiten Versuch an einer anderen Felswand. Kiran lächelte ihn an. »Ich freue mich darauf.«
In Devs Augen trat ein gemeines Funkeln. »Werde dich zugegebener Zeit daran erinnern.« Er sprang herab und ging zum Wagen, wo er im Gepäck kramte. »Nimm dir was zu essen, dann gehen wir los.«
Kiran würgte eine Handvoll Zwieback und Dörrfleisch hinunter, während Dev ihre Ausrüstung zusammenstellte. Er betrieb das mit einem eifrigen Elan, der zu seiner lässigen Haltung von eben einen scharfen Gegensatz darstellte. Trotz seiner augenscheinlichen Zuversicht war er sicherlich auch erleichtert, gegen die Sendung einer Botschaft nach Ninavel etwas unternehmen zu können.
»Als Erstes wirst du lernen, über ein Geröllfeld zu laufen.« Dev deutete mit dem Daumen auf den steilen Abhang unterhalb der Steilwand. »Geh langsam und achte auf lose Steine. Stütze dich, wenn’s sein muss, mit den Händen ab.«
Dev lief die Böschung hinauf, als wäre es bloß eine gepflasterte Straße. Kiran dagegen rang ständig ums Gleichgewicht. Bis er und Dev an der Steilwand anlangten, war er außer Atem und seine Beinmuskeln schmerzten.
»Setz dich und ruh dich kurz aus«, sagte Dev.
Kiran versuchte, nicht zu grollen, weil Dev überhaupt nicht außer Atem war. Behutsam ließ er sich nieder. Unmittelbar an der Wand waren die Steine höchstens faustgroß – Felsschutt nannte Dev sie –, und sie verschoben sich knirschend, sowie er sich bewegte, und gaben ihm das unbehagliche Gefühl, jeden Moment den Abhang hinunterzukollern. Er drehte den Oberkörper und schaute die Felswand hinauf.
»Glaubst du, da gibt es Karkabon?« Die Wand war fast senkrecht. Kiran konnte sich nicht vorstellen, wie jemand ohne Magie da hinaufsteigen wollte.
»An einer so leichten Wand? Ganz bestimmt nicht. Da ist alles Brauchbare längst abgeräumt. Aber von hier aus kommt man zu der Stelle, die mir vorschwebt, und für dich ist das guter Übungsgrund.«
»Du meinst, ich soll da
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