Die Chroniken von Ninavel – Die Blutmagier
gingen nach Westen, bis sie an ein breites Schneefeld kamen, das im Mondschein glänzte. Eine Linie tiefer Trittspuren verlief bis ans andere Ende.
»Hier ist Pello hinübergeritten?«, flüsterte Kiran. Als Dev ihm einen finsteren Blick zuwarf, fügte er entschuldigend hinzu: »Ich habe deine Unterhaltung mit Cara gehört.«
»Dann weißt du, dass er zur Grenze will«, sagte Dev. »Ich hoffe, vor ihm da zu sein. Hab eine Abkürzung im Kopf.« Er trat auf den Schnee. Als er den Fuß anhob, war kein Abdruck zu sehen. »Ist schon zu Harsch geworden. Darauf bilden sich keine Fußabdrücke, aber pass auf, wir können auch keine Eispickel oder Steigeisen benutzen, wenn wir keine Spuren hinterlassen wollen. Mach kleine Schritte und keine schnellen Bewegungen.« Er betrat das Schneefeld und drehte sich noch einmal um.
»Vielleicht ist Pello nur abgehauen, weil er dein hübsches Amulett gesehen hat und denkt, du wirst ihn noch mal unter einer Lawine begraben. Aber dass er auf direktem Wege zur Grenze rennt, leuchtet noch viel mehr ein, wenn man annimmt, dass er von Ruslans Kommen weiß. Fällt dir dazu was ein?«
»Ich wüsste nicht, wie er von Ruslan erfahren haben soll«, antwortete Kiran bedächtig. Kaum ein Unbegabter überlebteeine Begegnung mit Ruslan. »Aber vielleicht denkt er genau wie du, dass ein anderer Magier mich mit der Lawine töten wollte und dass es den Konvoi noch einmal treffen wird.«
»Möglich.« Dev klang nicht überzeugt. Er drehte sich um und ging los.
Kiran stapfte hinter ihm her. Der Schnee war schrecklich glatt und von Klumpen und Graten überzogen, sodass man ständig aufpassen musste, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Als sie wieder auf schneefreies Gelände kamen, zitterten Kiran die Beine.
»Wie weit noch bis zur Schlucht?«, fragte er.
»Ungefähr zwei Meilen.«
Noch zwei Meilen! Kiran wusste nicht, ob er weinen oder lachen sollte. Er konnte schon jetzt kaum einen Fuß vor den anderen setzen, noch hatte er während einer Erholungsphase etwas so Anstrengendes getan. Wie sich das auf lange Sicht auswirken würde, wusste er nicht. Wenn er sich zu sehr auslaugte, würde er dann auch die Fähigkeit verlieren, sich abzuschirmen? Oder würde er nur wieder bewusstlos werden, worauf Dev ihn sicherlich verließe?
Dev beäugte ihn. »Willst du eine Pause machen?«
Ja, schrien Kirans brennende Muskeln. Doch oben an der dunklen Bergmasse im Osten waren die Magierfeuer des Konvois noch stecknadelkopfgroß zu sehen. Kiran sammelte seine Konzentration, um die Schmerzen auszublenden. »Wir sollten weitergehen.«
Dev schüttelte den Kopf, sagte aber nichts. Er führte Kiran über endlose Geröllfelder. Das Mondlicht tauchte alles in Grau und Schwarz, und bis auf seinen keuchenden Atem und sein Herzklopfen hörte Kiran nichts. Es war unheimlich still.
Unvermittelt brach die Nacht entzwei. Magie brandete kochend heiß gegen seine Barriere. Lautlose Blitze erfassten seine Nerven und blendeten ihn. Für einen scheinbar endlosen Moment stand er in Flammen und das Amulett an seiner Brust glich einem gleißenden Stern.
Irgendwo rief irgendjemand seinen Namen. Kiran blinzelte, die Welt kehrte zurück. Er war auf Knien, mit einer Hand an einen Stein gestützt, mit der anderen hielt er Lizavetas Amulett umklammert, sodass die Finger schon halb taub geworden waren.
»He! Kiran!« Dev klang besorgt. Er wollte Kiran schütteln, riss aber erschrocken die Hand zurück.
Kiran stand auf, weil ihm scharfkantige Steine in die Schienbeine drückten. Nach einem tiefen, schmerzhaften Atemzug ließ er das Amulett los. Er wartete auf die aufsteigende Panik, aber die blieb aus. Ihm war nur kalt bis auf die Knochen.
»Was ist denn mit dir passiert?«, wollte Dev wissen, als Kiran auf die Beine kam.
»Ruslan.« Seine Stimme zitterte, so sehr er es zu unterdrücken versuchte. »Er ist beim Konvoi angekommen.«
ZEHN
DEV
Ruslan? Scheiße!« Ich spähte über das mondhelle Becken zu dem blassen Streifen der Desadi-Rinne. Alles war still, der Anblick wieder wie zuvor. Jetzt verstand ich, warum die Südländer sich an ihre Teufelsschützer klammerten. Was sollte man sonst machen angesichts einer unsichtbaren Bedrohung, die jeden Augenblick zuschlagen konnte? »Hat er dich angegriffen? Verflucht noch eins, du hast doch gesagt, dein Amulett schützt uns …«
Kiran stieß einen Laut aus, der vage an Lachen erinnerte. »Hat es ja.« Wacklig wie ein Bergmann, der fünf Tage auf dem Bauch gearbeitet hat, ging er weiter.
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