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Die Chronistin

Die Chronistin

Titel: Die Chronistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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den Schultern packte sie Sophia, um sie von einer Türe zurückzuzerren. Jener freilich nützte es, dass sie groß gewachsen war. Sie hob eine Hand, um der anderen in den Bauch zu schlagen – und ihre Ungeduld und ihr Toben gaben ihr genügend Kraft, um die zähe, aber alte Sarazenin in die Ecke zu schleudern.
    »Lass mich in Ruhe, dummes Weib!«, zischte sie über die Schultern und öffnete die Türe.
    Auch aus dieser Kammer entströmte ein Geruch, der ihre Kehle erfüllte und sie zum Husten brachte. Anstelle eines überstarken Duftwassers war jene dicke Luft jedoch abgestanden und modrig.
    Sie schnaufte und suchte sich im Halbdunkeln zu orientieren, indessen sie eintrat. Der Gestank verstärkte sich und ließ sie an Verwesung denken.
    Vielleicht hat Bertrand ein Tier getötet, durchfuhr es sie, und sie dachte an die verwunschenen Katzen, die man manchmal durch Paris laufen sah, – vielleicht vermeint er so an die Lebenskraft zu kommen, die er für sein Elixier braucht...
    Sie presste sich die Hand auf den Mund und wollte sich schon wieder umdrehen, überzeugt, dass sich in diesem Raum gewiss nichts an Arzneien finden ließ.
    Hieda jedoch setzte nicht nur der unerträgliche Gestank ihr zu. Ein klapperndes, klirrendes Geräusch ertönte, als würden zwei Silbergefäße aneinander gestoßen. Nie hatte Sophia diesen Klang vernommen, jedoch in Erinnerung, dass man über die Gefahr, die er verhieß, in ihrer Gegenwart gesprochen hatte.
    »Was, zum Teufel...«, entfuhr es ihr, ehe sie sich wieder umdrehte, tiefer in die Kammer eindrang und unter zusammengeknüllten Leinentüchern zu erspähen suchte, wer diesen Laut erzeugte und schließlich auch ein lang gezogenes Stöhnen ausstieß.
    »Oh, mein Gott!«, rief sie entsetzt und wich zurück.
    Isidora führte sie aus dem Zimmer und nach unten. Sie war noch blass und angeschlagen von Sophias Stoß, jedoch nicht bebend wie jene. Noch ehe sich Sophia setzen konnte, überkam sie ein Würgen, und sie übergab sich neben der Sarazenin.
    »Ich habe Euch doch geraten, Ihr sollt niemals die verborgene Kammer betreten!«, erklärte diese streng – und zugleich schicksalsergeben. Das furchtbare Geheimnis war nicht länger zu verbergen.
    »Wie konnte... wie konnte ich ahnen...«, stammelte Sophia und dachte, dass die bitteren Säfte, die ihr aus dem Magen hochstiegen, ihren Hals zerkratzen müssten wie spitze Messer.
    »Trinkt!«, forderte Isidora sie auf und reichte ihr Wasser. Vielleicht war es Sinnentrug, aber es schmeckte so modrig und verdorben wie das, was sie eben erblickt hatte.
    Noch ehe sie hochsah, sprach Isidora auf sie ein: »Ihr dürft mit niemandem darüber sprechen, versteht Ihr? Nur ich weiß davon – und Bertrand!«
    »Es ist verboten«, warf Sophia mit jämmerlicher Stimme ein, »es ist verboten, dass sie hier im Haus lebt!«
    »Genau aus diesem Grund dürft Ihr es keiner Seele jemals sagen. Sie würde verjagt werden, und dann...«
    Sie sprach verlöschend leise nun, wenngleich das eine dunkle Auge zum ersten Male milde blickte. Es war randvoll mit Willfährigkeit und Liebe, die stets nur einer gegolten hatte: Mélisande.
    »Bertrand... Bertrand hat mir gesagt, dass sie am Aussatz litte. Wie aber kommt es, dass sie so lange damit überleben kann?«
    Isidora lachte bitter auf. »Oh, das ist keine Zeit!«, rief sie aus. »Vergesst nicht, ich selbst habe König Baudouin gepflegt – und bei jenem währte es sechs Jahre, bis sein Körper bei lebendigem Leib verwest war. Andere überstehen zwei Jahrzehnte damit. Lange dauert es auch, bis nach dem ersten Zeichen die Krankheit losbricht. Oft frage ich mich, ob es nicht auch ich war, die ihr das Übel brachte – vielleicht klebte die Fäulnis der Lepra noch an meinen Händen, als ich ihr im Kindbett half, den kleinen Théodore zu gebären.«
    »Aber...«, setzte Sophia hilflos an.
    Sie konnte sich kaum vorstellen, wie das Bündel Mensch, das dort oben von weißem Leinen bedeckt hockte wie von Leichentüchern, noch Leben in sich haben konnte. Die Haut des Gesichts war mit geschwollenen Knoten übersät, die an manchen Stellen ineinander zu verschmelzen schienen, die Finger zu den Krallen eines Raubvogels verzerrt (von einigen war das letzte Glied abgefallen), der Kopf schließlich anstelle von Haaren mit einer einzigen, roten, nässenden Wunde überzogen. Ein Wunder, dass Mélisande die Rassel, welche alle Aussätzigen bei sich trugen, um vor sich zu warnen, noch heben konnte!
    Isidora nickte düster. »Bertrand hat mich

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