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Die Chronistin

Die Chronistin

Titel: Die Chronistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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wieder durch den Kopf, was der Kaufmann Arnulf aus Lübeck berichtet hatte.
    Arnulf, so hatte sie eben von ihm erfahren, war vom dänischen König gebeten worden, nach Isambour zu sehen. Als Lübecker Kaufmann sei er unverdächtig – wohingegen allen dänischen Landsleuten der Zutritt streng verboten worden war. Arnulf folgte nur unwillig und unterwarf den ächzenden Leib, der zwar nicht kränker, aber älter geworden war, einer mühseligen, langen Reise. Nach Wochen auf den rumpelnden Straßen – mal eisigen Winden, mal feuchtem Regen, mal stechender Sonne unterworfen – war er gewiss, dass er die gleiche Strecke kein zweites Mal überleben würde. Das Kloster der Benediktiner in Étampes, das ihn beherbergte, indessen er das Befinden der Königin erfragen wollte, schien ihm darum eine geeignete Stätte für den Lebensabend zu sein. Längst hatte ob seines nunmehr sehr hohen Alters die Angst um sein Seelenheil die Furcht vor Krankheiten gemindert. Reinigend wie einst die Bäder im Wasser der Heiligen deuchten ihn das regelmäßige Gebet, der festgeschriebene Tagesablauf und die vielen Messen. Er stellte sie sich als Medizin für die Seele vor, welche – vorbeugend zu sich genommen – immerwährendes Wohlbefinden verspricht.
    Um die Zahl der guten Werke noch zu erhöhen, besuchte er obendrein die verstoßene Königin, setzte sich bei den finsteren Rittern, die sie bewachten, für ihr Wohlergehen ein und schürte das Gerücht, sie sei eine heilige Dulderin. Anders als manche französischen Geistlichen suchte er damit nicht, den Ruf des Königs zu beschädigen, vielmehr jedoch einen Glanz heraufzubeschwören, in dem er sich selbst sonnen und wärmen konnte. Gar manche Legende brachte er über sie in Umlauf und freute sich daran, dass viele andere – ob besonders Fromme oder besonders Kranke – nach Étampes gelockt wurden, die sich von der unbekannten Königin Heilung an Seele oder Leib erhofften.
    Sophia hörte, dass er ihr eben nachkam, viel gebückter und schwerfälliger als einst, aber ohne Trachten, den Dreck zu vermeiden.
    »Mir gibt’s zu denken, dass Ihr so mutig im Schmutz watet. Es könnte Ansteckung zu erwarten sein«, höhnte sie über ihre Schultern.
    »Ich werde sterben – dies ist mir gewiss wie jedem Menschen«, gab Arnulf salbungsvoll zurück. »Warum aber mit Sorgfalt gegen Krankheit wettern, anstatt zu trachten, dass man dem ›schönen Tod‹ entgegen lebt, der das Tor zum Himmel, nicht zur Hölle weist?«
    Kaum hatte sie die kleine Anhöhe erreicht, auf die die Wiese zuführte, blieb sie mit einem Ruck stehen und wandte sich um.
    Er bemühte sich, nicht auf dem heruntergefallenen Laub auszurutschen, sodass sie den vorwurfsvollen Blick, den er ihr vorhin auf der Treppe zugeworfen hatte, nicht erneut auf sich ruhen sah.
    Stattdessen war’s seine Stimme, die ihr zusetzte.
    »Warum«, fragte er, »warum habt Ihr Euch nicht um sie gekümmert?«
    Sophia blickte sprachlos und vergrub sich in den klammen Mantel.
    »Man hat sie Euch anvertraut«, fuhr Arnulf nörgelnd fort, »man hat Euch gebeten, für ihr Wohl zu sorgen. Ich selbst habe Euch damals dem dänischen König angeraten. Und dann habt Ihr sie im Stich gelassen!«
    Zuerst schüttelte sie den Kopf, als habe sie ihn nur falsch verstanden. Dann hörte sie sich lachen – schrill und wütend.
    »Macht mich nicht glauben, Ihr hättet mich um ihretwillen geschickt!«, gab sie zurück. »Kein schlechtes Gewissen wolltet Ihr haben, weil Ihr mich ob meiner Gabe derart gefürchtet habt – und obendrein vermeiden, dass ich der Welt von Eurer verdorbenen Lust erzählte. Dank Isambour war es Euch ein Leichtes, mich los zu sein und Euch obendrein als Retter zu wähnen. Und dabei habt Ihr gänzlich übersehen, dass Ihr mein Los in die unfähigen Hände einer Schwachsinnigen gelegt habt!«
    »Sprecht nicht so von ihr! Es geht der Ruf ihrer Heiligkeit von dieser Stätte aus!«
    »Ei gewiss! Weil Menschen wie Ihr sie in einen Kampf treiben, der nicht der ihre ist. Wisst Ihr nicht, was Ihr mir angetan habt, Arnulf, als Ihr mich zu ihr schicktet? Wisst Ihr nicht, wie armselig mein Leben geworden wäre, hätte ich mich nicht von ihr losgesagt?«
    »Ich weiß vor allem, dass sie erblindet ist, dass sie Hunger leidet, dass sie langsam abstirbt!«, warf er nörgelnd ein.
    »Dann soll es so geschehen!«, schrie sie. »Auf dieser Welt sind schon Pflänzchen zertreten worden, die weniger zart sind als sie. Vielleicht ist sie für das hiesige Geschick nicht

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