Die Chronistin
»Ach, ich gäbe etwas drum, müsst’ ich’s nicht in die Erde schreiben, sondern auf Pergament. Warum habt Ihr mich aus dem Skriptorium verbannt? Warum darf ich nicht lesen und lernen? Warum darf ich den Geist an nichts anderem als an Kräutergewächsen schulen? Verflucht, das ist kein Leben!«
Schwester Irmingard presste die Lippen zusammen. »Ich habe dich gewarnt, Sophia. Nicht ich trage Schuld für dein Geschick, sondern deine Gedankenlosigkeit und dein Hochmut.«
»Weil sie an meinen Vater erinnert, von dem ich nichts weiß?«, hörte Sophia nicht auf, klagende Fragen in die graue Luft zu rufen. »Warum muss ich meine eigenen Taten an seinen messen lassen, obwohl mir niemand sagt, was er verbrochen hat? Vor allem der Pater Immediatus nicht.«
»Aus gutem Grund!«
»Ach, Schwester Irmingard! Gar manche Jahre ist es her, da er mich zurechtwies. Hab ich denn nicht genügend bewiesen, dass ich mich fügen kann?«
Die andere schöpfte nach Atem und griff sich an die Brust. »Mir scheint, nicht genug!«, murmelte sie heiser.
Sophia trat auf sie zu, jedoch nicht, um sie zu stützen, sondern um noch eifriger auf sie einzuschreien.
»Ihr seid die Bibliothekarin, die zu entscheiden hat, wen sie zu ihrer Gehilfin macht! Nehmt mich, ich flehe Euch an, nehmt mich! Lasst mich nicht in der Krankenstube versauern!«
»Ach Sophia, du dummes Mädchen! Beinahe war ich geneigt, genau das zu tun. Ich wähnte dich gereift und erwachsen geworden. Fünfzehn Jahre währt die Dauer deines Lebens, und ich dachte, dies sollte genügen, auf dass dir kindlicher Leichtsinn genommen wäre. Stattdessen muss ich nun gewahren, dass einstige Hoffart sich mit Jähzorn und Überheblichkeit verbündet hat! Weh dir, Sophia!«
»Was sprecht Ihr Unheil über mich aus? Ha!«, kreischte Sophia und stampfte den Ärger wie vorhin in die Erde. »Vielleicht sind’s nicht das einstige Gebot des Pater Immediatus oder der Schrecken über mein sündhaftes Gebaren, welche Euch abhalten, mich ins Skriptorium zu lassen. Vielleicht habt Ihr nur Angst, eine andere könnte sich als klüger und belesener herausstellen, als Ihr es jemals wart.«
»Ragnhild von Eistersheim!«, bellte Irmingard sie mit dem richtigen und in Sophias Ohren doch falsch klingenden Namen an. »Sag noch ein falsches Wort, und du siehst das Skriptorium niemals wieder. Dann sehe ich zu, dass du künftig nicht bei den Kranken Dienst tust, sondern bei den Schafen und Schweinen.«
Die Fußtritte, die sie der Erde versetzte, reichten nicht, die Wut zu mindern. Kaum wissend, was sie tat, schritt Sophia noch näher auf die hustende Nonne zu, packte sie an den schmalen Schultern und schüttelte sie, bis aus dem wächsernen Gesicht jede Farbe schwand.
»Nein, das werdet Ihr nicht tun!«, schrie sie hierbei. »Das werdet Ihr nicht tun!«
Schwester Irmingard öffnete den Mund, aber es entfuhr ihm kein Ton. Stattdessen floss ein zäher Schleim aus Blut und Speichel über die Lippen und befleckte den schwarzen Habit. Sie röchelte ein einziges Mal auf und brach dann vor Sophia nieder.
Fünf Tage währte das Sterben der Nonne. Zwar fand sie das Bewusstsein wieder, nachdem Sophia die verräterischen Spuren in der Erde ausgelöscht und um Hilfe gerufen hatte, aber sie öffnete nie wieder die Lippen, um zu sprechen. Glasig waren die Augen – das Weiße darin glänzte gelblich wie das übrige Gesicht.
Sophia betreute sie – zuerst, weil sie darüber wachen wollte, ob Schwester Irmingard etwas über ihre Untat verriet, zuletzt aus Sorge, dass nicht nur dieses Leben an seidenem Faden hinge, sondern das eigene Seelenheil. Dessen war sie womöglich für immer verlustig gegangen, falls sie tatsächlich einen Mord begangen hatte.
Was half es, sich einzureden, dass sie Irmingard gewiss nicht so viel Gewalt hatte antun wollen, um ihr Leben auszulöschen, dass die Tat nicht geplant war, gezeugt vielmehr von plötzlicher Wut und schließlich auch, dass es vielleicht nicht nur ihre Tat, sondern die länger währende Krankheit war, die die andere nun von innen her auszehrte und fortüber Blut spucken ließ?
Die Träume, die sie verfolgten, waren dunkel. Teufelswerk, Teufelswerk, spottete eine Stimme, die der der zänkischen Mechthild glich – nicht nur deine absonderliche Gabe, sondern du selbst bist ein Werk des Teufels. Du verbreitest Unheil und Tod.
»Ich wollte Euch nichts Übles tun«, murmelte sie später, am Bett der Kranken hockend, »allein, ich wollte doch nur...«
Sie brach ab.
Irmingard
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