Die Chronistin
sagte immer noch kein Wort, aber zog die müden Mundwinkel noch tiefer nach unten. Ein dünner Faden roten Bluts floss daraus, und noch ehe Sophia nach einem Leinentuch greifen konnte, es abzuwischen, hob Irmingard selbst die Hand und wischte sich mit einem Fetzen Stoff über den Mund. Als sie ihn wieder davon löste, so war er rot verfärbt. Abwartend blieb Sophia daneben stehen und wartete auf Antwort, anstatt nach dem feuchten Klumpen zu langen.
Da neigte sich Schwester Irmingard vor, riss mit einer Zähigkeit, die man an ihrem schwachen Leib kaum vermuten konnte, Sophias Hand an sich und drückte das blutige Bündel so fest hinein, dass Tropfen davon auf den Boden rieselten und Sophia vor Ekel würgen musste. Noch ehe sie sich fragen konnte, was der anderen diese Kraft verlieh, sank jene jedoch schon wieder matt aufs Bett.
Es war dies die letzte Regung, die Sophia an ihr gewahrte. Wenig später begann der starre Blick zu flattern und zu verlöschen.
Sophia stand reglos neben der Toten.
»Es ging noch schneller als erwartet«, murmelte Schwester Cordelis und drückte die starren Augenlider nieder, damit Irmingard nichts mehr von dem hiesigen Jammertal sehen müsste, sondern nur mehr die jenseitige Welt.
Die Trauer im Kloster war gleichgültig.
Weder schreckte noch schmerzte es, wenn eine von ihnen ging. Man wusste, was zu tun war, um ein christliches Leben abzuschließen und der Vollendung zuzuschieben, was gleichsam hieß, dass es leichter und berechenbarer war, zu bestatten und zu beten, als das Gedeihen des Viehs und das Wachsen der Felder zu begleiten. Lauter noch als für die Tote betete man in diesen Tagen ohnehin für die Kreuzritter, die dem Kaiser Friedrich Barbarossa ins Heilige Land gefolgt waren, um es von den Heiden zu befreien. Dass die heiligen Stätten geschändet wurden, deuchte sie viel schrecklicher – desgleichen, dass es nicht nur ein Land außerhalb des Klosters und seiner flachen Felder gab, sondern auch noch eines, von dem wochenlange Reisen trennten.
In Sophias Kopf war jedoch nur ein Gedanke: Wer würde Schwester Irmingard als Bibliothekarin nachfolgen? War jene ihr vielleicht geneigter gestimmt?
Die Fragen bedrängten sie ungeschrieben, desgleichen alle anderen, die die schleichende Unzufriedenheit der letzten Jahre und der Tod von Irmingard bedingten: Ist mein Geschick, in der Krankenstube zu verharren? Bin ich dazu verdammt, weil meine Gabe ob der Vergehen meines Vaters teuflisch deucht? Welche aber sind diese?
Sie meinte, der Kopf müsste ihr platzen ob der vielen Worte, die sich stauten. Sie suchte sie zu betäuben, sich fortweg einzureden, das Unwichtige vom Wichtigen zu unterscheiden.
Als das Kapitel zusammentrat, auf dass die Mutter Äbtissin ihre Beschlüsse kundtun konnte, raste dennoch ihr Herz, als hätte sie jene Pflanze erprobt, die von weit entfernten Ländern kam, deren Gebrauch man sorgsam dosieren musste und die bei falschem Einsatz töten konnte: die Alraune. Wurde sie aus der Erde gezogen, stieß sie einen Schrei aus, erzählte man sich, der so unerträglich wäre, dass er einen Menschen töten konnte. Sophia hatte niemals Mühe gehabt, sich solches vorzustellen, auch wenn Schwester Cordelis meinte, diese Mär könnte nur ein Gerücht sein, vom Aberglauben gesät, nicht vom Vertrauen auf den einen wahren Weltenrichter. In der Krankenstube hatte sie alle verderbten Laute aus menschlichen Mäulern gehört, die – an einem Tag noch überirdisch singend – ob Wunden, Frostbeulen oder Eiterfurunkel schon bald darauf mit Stöhnen und Röcheln und Schreien und Heulen das pervertierte Lied des Teufels sangen. Grässlich war das, noch schwerer zu ertragen als die Leiber selbst, welche sich bogen und verzerrten und krümmten und stinkende Ausdünstungen von sich gaben.
Die Stimmen des Kapitels waren nicht von Krankheit bestimmt, welche manchmal eine Prüfung Gottes ist, meistens aber eine Strafe für die Sünden, sondern klangen klar und bestimmt. Mit einem Seitenblick musterte Sophia die Mitschwestern, derer viele sie schon seit Monaten nicht mehr vor die Augen bekommen hatte. Dorothea, einst talentloser als sie, diente seit langem schon dem Kloster als Kopistin. An ihrer Seite saß die stumme Ehrentrude, welche den Altarraum rein hielt, die Messgefäße reinigte und die Decken bestickte. Wieder einen Platz daneben hockte Mechthild, die seit einem Jahr nicht länger Novizin war, sondern das Nonnengelübde abgelegt hatte. Zu diesem Anlass hatte der Vater dem
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