Die Chronistin
den Blick, verstand nun endlich alles, was geschehen war, und aus wie vielen Fäden das Netz sich gesponnen hatte, das Théodore zu Fall gebracht.
»Und Isambour... der König nimmt tatsächlich nach zwei Jahrzehnten Isambour zurück?«, fragte Sophia schließlich.
Frère Guérin gab keine Antwort – so selbstverständlich war ihm das Ja.
»Überdies wird es zum Krieg kommen«, fuhr er stattdessen fort – etwas außer Atem von der vorigen Rede. »Zum größten und entscheidenden. Der Papst hat dem Weifen Otto seine Gunst entzogen und setzt stattdessen auf den jungen Staufer Friedrich. Sie werden um die Krone kämpfen – und England und Frankreich werden sich dem jeweiligen Bündnispartner anschließen. Ein weiterer, ja noch besserer Grund für Philippe, sich bedingungslos auf die Seite des Papstes zu stellen und jegliche Irrlehre schärfstens zu verurteilen.«
»Ihr sprecht so strahlend, als wolltet Ihr den Krieg«, rief sie verächtlich. »Und habt ihn einst so sehr gescheut!«
»Dieser ist notwendig. Er wird Frankreich groß machen.«
»Und was habt Ihr davon? Ruhm, Macht, Ehre? Oh, gering kann doch nur die Genugtuung sein, dass der König endlich auf Euch hört, nachdem Ihr Euch Eure Beine wund gekniet habt!«
Ein schiefes Lächeln verzerrte seinen Mund. Erneut antwortete er nicht, sondern gab ihr im Stillen Recht – nicht ohne sie zu strafen, dass sie ihn durchschaute.
»Habt Ihr gedacht, Euer bleicher, schwacher Stiefsohn könnte mir zum Rivalen werden?«, fragte er sachte höhnend. »Er ist sehr klug und spricht auf bedächtige Weise – doch ich dachte mir stets, wenn ich ihn sah, dass er Euch nicht das Wasser reichen kann. Warum habt Ihr ihm die Aufgabe zugeschoben, der Dauphine ein wenig von Eurer Weisheit zu verleihen? Warum seid Ihr nicht Ihre Vertraute geblieben, sondern habt Euch vom höfischen Leben gänzlich zurückgezogen?«
An seinen Schläfen traten dunkle Adern hervor – auf ihren Wangen die Röte.
»Ihr seid ein schändlicher Mann, Frère Guérin!«, keifte sie. »Ihr wisst genau, dass mir dies alsbald verboten worden wäre. Dieser... dieser Henri Clément hat mich zurechtgewiesen und mir gedroht! Kein Weib dürfe sich solches anmaßen, hat er mir vorgehalten. Und Ihr – Ihr habt doch mit ihm gemeinsam über mich gespottet!«
Verwundert blickte er sie an, kramte in seinem Gedächtnis, schüttelte dann überzeugt sein Haupt.
»Mitnichten tat ich das«, meinte er nachdenklich. »Ihr sprecht von jenem Tag, da dieser arme Ritter beim Turnier verletzt wurde und bald darauf seinen Odem aushauchte?«
»Gewiss! Henri Clément hat mich vor der ganzen Ärzteschaft bloßgestellt. Und Ihr...«
»Und ich habe ihm gesagt, dass er es nicht wagen sollte, ein schlechtes Wort über Euch zu verlieren!«, stritt er ihren Vorwurf ab. »Ihr stündet unter meinem Schutz – und wehe ihm, wenn er vermeinte, über Euch richten zu dürfen. Als der Unglückliche starb, hab ich’s ihm persönlich vorgehalten – ich war gewiss, dass eher Ihr ihn hättet retten können als diese Stümper. Ihr seid ein Weib, das wohl, so sagte ich ihm, und nicht viel Gutes könnte man von diesem Geschlecht erwarten. Und doch – an Euch hat Gott bekundet, dass sein Geist weht, wo er will. Sogar noch mehr als das habe ich ihm vorgehalten – dass nämlich er, Henri Clément, sich glücklich schätzen könnte, spräche er die Sprachen, die Ihr beherrscht, begriffe er die Welt, wie Ihr sie seht, und könne er mühelos zwischen allen Wissenschaften wandeln. Das alles hätte ich auch gesagt, wärt Ihr noch neben mir gestanden und nicht einfach wortlos geflohen.«
Verspätet, aber deutlich kam seine Anerkennung – doch sie setzte ihr mehr zu als alles bisher Gesagte. Ihr gerechter Zorn, der sie vor all den peinigenden Erinnerungen geschützt hatte, glich jäh sprödem, abgetragenem Leder, durch dessen Risse die Traurigkeit von einst schimmerte – noch nackter nun, da er keines Fehlens zu bezichtigen war. Sie suchte nach Worten, um ihre Beherrschung zu flicken. Doch die Sprache, die sie sonst mühelos beherrschte und deren Worte sich stets nahtlos aneinander fügten, erwies sich als ebenso ausgefranst und löchrig.
Hilflos stampfte sie auf, als wolle sie ein Loch in den Boden treten und das drohende Bekenntnis hineinschleudern, wonach sie einst falsch über ihn gerichtet, Mélisande umsonst in den Tod getrieben und Théodores in Elend mündendes Geschick selbst heraufbeschworen hatte. Als es nichts fruchtete, schritt sie auf
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