Die Chronistin
»– es kann nicht sein, dass ich selbst das Misstrauen im König säte. Ich trage keine Schuld daran! Wie hätte ich erahnen können, was er sich ausdenkt, um dem eigenen Sohn zu schaden? Und auch begreife ich nicht, wie ihm gelingen konnte, das Mühen kleinlicher Professoren zu nutzen...«
Blanche umklammerte die löwenköpfige Lehne des Stuhls mit ihren kindlich kleinen Händen.
»Habt Ihr’s immer noch nicht begriffen!«, fauchte sie. »Hier geht’s um mehr als falsche Lehren und Aristoteles. Hier geht’s um... ach, sei’s drum. Fragt nicht mich. Ich hab’s nicht ausgeheckt. Ich wünschte einzig, Ihr wärt mir niemals vor die Augen gekommen.«
Es lag Sophia auf der Zunge zu erwidern, dass sie in diesem Falle nicht mehr leben würde.
»Ich will doch nur, dass Théodore...«, setzte sie stattdessen an.
»Wie soll ich ihm helfen, wo mein Name befleckt ist wie der meines Gatten?«, fuhr Blanche dazwischen. »Da müsst Ihr schon vor einem anderen zu Kreuze kriechen. Ich meine nicht den König. Der König ist gut im Jagen... nicht im Spinnen von solch hinterlistiger Tücke. Zu diesem Zwecke hält er sich einen geschickten und durchtriebenen Berater.«
Die Luft in der Kemenate war stickig. Dennoch schüttelte Sophia ein jähes Frösteln, und ihre Brust zog sich zusammen. Blanches Lippen hatten sich verschlossen – und doch schien sie laut den Namen desjenigen auszusprechen, der all das über sie gebracht hatte.
Sophia konnte ihn hören. Sie sah die Gestalt; sie blickte in das Gesicht.
»Von wem«, fragte sie tonlos und wusste die Antwort, »von wem sprecht Ihr?«
Anno Domini 1245
Damenstift zu Corbeil
In der Nacht, nachdem sie erfahren hatte, dass Sophia eine zweite Chronik geschrieben hatte, quälte Roesia ein schrecklicher Traum.
Sie wähnte sich im Land ihrer Kindheit, an einem der namenlosen Strände, über die sich am späten Nachmittag die Flut ergoss. Zu weit war sie dem lichten Horizont entgegengegangen; nun machte das schäumende Wasser das kleine Fleckchen Sand, auf dem sie stand, zu einem Kerker. Immer höher wölbten sich die Mauern. Ehe freilich das Nass sie verschlang, kam der Sand ihr zuvor. Weiß wie Schnee zerrieselte er unter den schmalen Füßen und sog sie immer weiter in die Tiefe.
»Habe ich nicht jedem von euch eingebläut, niemals in die Nähe des gefährlichen Treibsandes zu kommen?«, ertönte eine wuchtige Stimme.
Plötzlich ward sie nicht mehr vom hungrigen Meeresgrund verschlungen, sondern einem scheltenden Mann ausgesetzt, der von der Schwester zu ihr trat, sie an der Schulter packte, schimpfte – und schließlich weinte.
Sie selbst weinte auch. Rot wie Blut floss es aus den Augen, und die Kehle trocknete schluchzend aus, als riesele der grobe Sand hindurch.
Roesia fuhr auf.
Der Vater.
Der strenge, schimpfende und zugleich trauernde Vater, der vor ihr auf und ab schritt.
Richildis, die Schwester, die sich an ihr festklammerte.
Die Mutter, deren Schultern bebten.
Zwei Tage zuvor war der jüngere Bruder – nach dem Ahnherren aller tapferen Normannen Guillaume benannt – zu wagemutig den schäumenden Wellen entgegengelaufen. Als er zurück an den Strand kehren wollte, wo die Schwestern warteten, ward er von den gierigen Händen der Zauberwesen erfasst, die unter dem Sand hockten und ihn in die Tiefe zogen. Niemand wagte es, sich dem Kinde helfend zu nähern – jeder hatte Furcht, der Sand werde auch ihn gierig auffressen. Zuerst hatte Guillaume schreiend und flennend um sich geschlagen, zuletzt versank er steif und gottergeben, weil der Priester ihm aus sicherer Entfernung zurief, er solle mit einem Gebet auf den Lippen ersticken, nicht mit Wehklagen.
»Wie kannst du das vergessen haben?«
Roesia hustete. Die Kehle schmeckte noch sandig. Sie hörte die Frage ihrer Schwester – heraufbeschworen von den Worten, die am gestrigen Abend Sœur Yolanthe zu ihr gesprochen hatte.
»Wie könnt Ihr vergessen haben, ehrwürdige Mutter, dass Sophia ihre erste Chronik verbrannt und eine zweite geschrieben hat?«
Ungläubig hatte sie sie angestarrt. Leer war das Buch ihrer Erinnerung. Zugeschlagen nicht vom Zufall und der Vergänglichkeit, sondern vom eigenen Willen, sich Quälendem und Traurigem zu widersetzen.
»Ich... ich weiß nicht...«, hatte sie gemurmelt.
»Aber Ehrwürdige Mutter«, rief Sœur Yolanthe, »seitdem Ihr in dieses Stift eingetreten seid, wart Ihr die engste Vertraute von Sophia. Einige hier kannten sie aus einem früheren Leben und hassten sie.
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