Die Chronistin
Andere waren zu jung, um sich einer ihres Alters nah zu wähnen. Ihr aber habt jeden Augenblick genützt, um von ihrer Weisheit und ihrer Gelehrsamkeit zu zehren. Habt Ihr Euch etwa nicht von ihr unterrichten lassen?«
»Gewiss, aber... aber über ihr Leben habe ich nie...«
»Ich kann mir nicht denken, dass Euch verborgen geblieben ist, was selbst eine wie ich weiß! Nach dem Tod von Königin Isambour hat Sophia die Chronik, woran sie ein Leben lang geschrieben hat, vernichtet. Und dann hat sie mit einer ganz anderen begonnen. Wie könnt Ihr das vergessen haben?«
In ihrem Kopf rauschte es. Die Bilder, die sie suchte – von Sophia, wie sie redete, wie sie schrieb, wie sie die Chronik verbrannte –, gerieten so unscharf, als sei ein Schleier darüber geworfen.
»Wie kannst du das vergessen haben?«, plärrte stattdessen laut die Stimme ihrer Schwester Richildis.
Drei Tage nachdem der Bruder im Treibsand versunken war, hatte Richildis mit ihr über den Kummer sprechen wollen. Roesia hatte sie so ungläubig angestarrt wie am gestrigen Tag Sœur Yolanthe: Es war ihr, als würde Richildis von einem Fremden sprechen. Guillaumes Name schmeckte nach nichts. Das Entsetzen, die Trauer, schließlich auch die Scham, weil sie ihn nicht von der gefährlichen Stätte zurückgehalten hatten, waren so blass wie all die anderen Kümmernisse ihres Lebens.
»Du flüchtest dich nicht nur in die Welt deiner Gedanken, wenn dir Schreckliches geschieht!«, rief Richildis mahnend auf sie ein. »Nein, du suchst im Vergessen auch Zuflucht, wenn das Schreckliche längst vorüber ist. Du drehst dich niemals um!«
Roesia wusste nicht, wie spät es war, ob noch mitten in der Nacht oder kurz vor dem Morgengrauen. Die Stimmen hatten sie wach gemacht – und anstatt sich wie sonst verlegen zu ducken, horchte sie auf deren Botschaft, kleidete sich an und entzündete eine der kleinen Öllampen.
Sophias Chronik.
Sophias zweite Chronik.
Ich muss sie suchen und finden. Ich muss dem Morden Einhalt gebieten.
Die Kopfschmerzen brauten sich drohend an ihren Schläfen zusammen, doch sie widerstand ihrem Druck wie dem Wunsch, sich dem gnädigen Vergessen anheim zu geben.
Ich muss mich daran erinnern. Wie sie die erste verbrannt hat. Wie sie die zweite geschrieben hat. Wo sie sie versteckt hat.
Auf Zehenspitzen schlich sie durch den Gang, dem gelben Lichtkreis folgend, den die Lampe warf, und plötzlich erschreckend gewiss, wo sie die schattenhafte Vergangenheit zuerst zu durchwühlen hatte.
Kapitel XV.
Anno Domini 1213 bis 1214
Frère Guérin hatte sich verändert.
Wohingegen Arme und Beine so schlaff und dünn waren wie die eines kleinen Kindes, wölbte sich über der Scham ein kleines Bäuchlein, das sich selbst unter dem langen, schwarzen Mantel abhob. Sein Gesicht war eingefallen, aber wirkte ob des nun gänzlich haarlosen Hauptes größer – wie auch die früher schon weibischen Lippen Sophia noch wuchtiger deuchten.
Er weigerte sich, wie viele andere Männer des Hofs, eine Perücke zu tragen – so wie er einst auch niemals gelbe Seidenoder Goldfäden durch die schütteren Strähnen geflochten hatte, auf dass sie fülliger wirkten.
Dass Annehmlichkeiten und Üppigkeit auch dem nunmehr langsam Alternden nicht zusagten, bewies desgleichen sein immer noch einfaches Zimmer. Einst, als der Königspalast sich im ärmlichen und schmutzigen Kleide gezeigt hatte, war jenes wohltuend sauber erschienen. Nun glich es der Zelle eines Mönches, der sich bei Wasser und Brot und Schlägen seiner Geißel in strengster Askese übte. Kalt waren die Wände, ohne jegliche Verzierung, desgleichen der kahle Boden.
Indessen Sophia noch stärker bebte als vorhin bei der Dauphine, fror Guérin in dem frostigen Raum mitnichten. Nicht einmal das rechte Bein zitterte wie einst. Kleine rote Flecken standen auf seinen Wangen und bekundeten, dass er sich im Zustand von Freude und Beschwingtheit befand.
»Ich habe es geschafft!«, stieß er triumphierend aus. »Der König hat auf mich gehört. Endlich ist er einsichtig – und bereit, den langjährigen Zank mit dem Papst beizulegen. Er fügt sich ihm und hat obendrein eingewilligt, Königin Isambour wieder als sein Weib zu akzeptieren! Nicht länger betrachtet er mich mit scheelem Blick, weil ich ihm diese unselige Ehe eingebrockt habe.«
Er ließ nicht erkennen, ob er noch wusste, wer Sophia war, prüfte ihr Antlitz nicht nach Veränderung, sondern trat ihr entgegen wie jedem anderen, dem er im Überschwang der
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