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Die Chronistin

Die Chronistin

Titel: Die Chronistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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um von dort höhnend zu fragen: »Wie tief, Sophia, musst du gesunken sein, dass du bereit bist, bei einer Königin auszuharren, die du für schwachsinnig hältst?«
    Wohltuend war stattdessen das genügsame, anspruchslose Schweigen, als säße sie neben einer Statue aus Stein, und unwillkürlich begann Sophia hineinzusprechen – wissend, dass sie weder lästige Antwort noch höhnende Anspielung zu befürchten hatte.
    »Die Welt ist aus den Fugen!«, klagte sie. »Ihr, Isambour, nützt Euren Schwachsinn, um vor der Welt zu fliehen – ich aber sitze darin fest und muss mit ihr zurechtkommen. Blanche verflucht mich, weil ich ihr guten Willens riet, das eigene Leben selbst zu formen, aber sie vergibt Théodore, der sie mit Absicht dem Verderben anheim gab. Cathérine rennt frömmelnd zur Kirche, macht zugleich grausige Geschäfte mit dem Weib des Henkers und empfängt obendrein den Bruder wie den Liebsten. Und kann doch gar nicht wissen, dass er nicht der Bruder ist. Und jener entzieht sich mir, um mich zu strafen und zu strafen und zu strafen – und warum? Ist’s meine Schuld, dass er sein Leben weggeworfen hat? Und ich möchte gar nicht wissen, wo sich der schreckliche Christian Tarquam herumtreibt. Gewiss ist er mit Théodore zurückgekehrt und erfreut die Huren von Paris. Könnte er nicht wieder beginnen, um Cathérine zu buhlen?«
    Zuerst lamentierte sie zaghaft, dann – von Isambour weder bestärkt noch aufgehalten – mit wachsendem Ärger.
    »Das alles interessiert dich nicht, nicht wahr?«, fuhr Sophia fort. »Von dir ist kein Ratschlag zu erwarten. Ei freilich bin ich froh, zumindest dem schrecklichen Schreien von einst zu entgehen. Und doch wär’s mir lieb, es brächte ein wenig mehr Nutzen, dass ich so viele Stunden bei dir hocke. Ich dachte... Blanche würde darob anderes in mir sehen als nur ein kaltes Weib. Stattdessen sind wir beide ihr wohl völlig gleich – und zu sprechen ist sie nur mit Théodore bereit. Oh, welch ein widersinniges Vorhaben, mich wieder an Eure Seite zu heften. Besser wär’s, Ihr würdet hier ohne mich verrotten!«
    Wiewohl am Anfang angenehm, erwies es sich mit zunehmenden Worten als wenig befriedigend, mit einem Menschen zu reden, der keine Stimme hatte. Missmutig betrachtete Sophia die starre Gestalt und fragte sich plötzlich, ob sie denn nichts an ihr bewirken könnte – und sei es nur, sie zu verstören.
    Boshaft war dieser Gedanke, heraufbeschworen von der eigenen schlechten Laune.
    »Das wollen wir doch sehen,«, murmelte sie, »ob ich nicht einen Laut aus dir kriege!«
    All die letzten Jahre hatte sie Isambour nicht berührt. Es gab keinen Grund dafür – wo sie doch nicht mehr zur Ruhe angehalten werden musste.
    Jetzt stand Sophia auf, beugte sich zu ihr hinab, ergriff die Hand – die gelblich war und kalt. Kein Leben pulsierte darin – als wäre Isambour schon tot. War es nicht so, dass manch Heiliger, nachdem er gestorben war, nicht verweste? Und war Isambour nicht schon tot zur Welt gekommen?
    Sophia streichelte über die Hand. Das Gerücht, dass Isambour eine Heilige wäre und den Tag nicht im Schweigen zubringe, sondern im Gebet, hielt sich auch nach dem Ende ihrer Verbannung hartnäckig. Manch Kranker näherte sich dem Palast, um bei ihr Heilung zu suchen.
    Welch ein Unsinn!, dachte Sophia. Welch ein Unsinn!
    Sie packte die Hand fester, wollte sie schließlich, da sie auf keinen Widerstand traf, wieder fallen lassen.
    Bevor sie es konnte, fühlte sie einen Luftzug von der Türe kommen. Sie war geöffnet geworden, und im Rahmen stand – sie und die schwachsinnige Königin betrachtend – Théodore.
    »Ich habe nicht erwartet, Euch... hier vorzufinden«, waren seine ersten Worte.
    Seine Stimme klang gedämpft, als wollte er an lauten Tönen sparen. Auch das Tempo der Schritte, mit denen er auf sie zutrat, zeigte gleiche Genügsamkeit der Lebensregungen: Er tat sie gemächlich, ohne Hast, das leise Zaudern bekundend, das ihn bei ihrem Anblick befiel. Er sah ihr auch nicht in die Augen.
    Sophia hockte wie gelähmt und vergaß, Isambours Hand loszulassen.
    Eine Zeit lang nannte sie nichts anderes als seinen Namen, ehe sie vermochte, daran auch eine Frage zu reihen.
    »Théodore... Théodore, warum suchst du mich erst jetzt?«
    Er war im ausreichenden Abstand stehen geblieben, aber hob nun endlich den Blick, auf dass sie sein Gesicht erforschen konnte. Einst war es jung, glatt und schön gewesen, nun sprossen Bart und Haare wie Unkraut; die weiße Haut war

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