Die Chronistin
dürfen, und stattdessen meist nur verpflichtet wurde, den ehrwürdigen Demoiselles und Damen des Hofstaats männliches Geleit zu geben.
Für gewöhnlich verzichtete Sophia auf solchen Schutz, doch nun, da es zu dämmern begann und die Straßen sich leerten, war sie froh, nicht alleine nach Hause gehen zu müssen.
Still war’s am sonst so belebten Place de Grève. Am Morgen versammelten sich hier Arbeiter, die keiner Zunft angehörten, ihre Dienstleistung anboten und auf eine Woche Arbeit hofften.
Gegen Mittag wurde es noch betriebsamer, weil in der Nähe die Schiffe der Kohlenhändler anlegten und ihre Ware ausluden. Nun freilich hallten ihre Schritte am leeren Platz – auch die Geschichtenerzähler, die am Nachmittag an den Ecken standen und Märchen, Lieder und Sprichwörter in die Menge riefen, waren heimgegangen. Nur verlumpte Bettler waren geblieben und verbreiteten üblen Gestank.
»Pack!«, murmelte Rudolphe. »Widerliches Pack.«
Während er seinen Ekel flüsternd bekundete, tat es eine andere mit lautem Geschrei. Eine gellende Frauenstimme durchklang die abendliche Stille.
»Verschwinde! Hau ab!«
Ein Hund kläffte mürrisch. Eine Tür fiel quietschend ins Schloss.
Sophia zuckte zusammen, als nicht weit von ihr eine geduckte Person, die Hände fast am dreckigen Boden schleifend, über die Straße huschte. Es war ein Mann, barfüßig, den Leib in ein braunes, sackähnliches Gewand gehüllt.
Trotz der gebückten Haltung deuchte er sie kräftig und hatte noch alle Körperglieder, wohingegen sich die meisten Bettler verstümmelten, auf dass sie mehr Mitleid erzeugten.
»Schau, wie der Bettler laufen kann!«, spottete Sophia. »Er sollte sich besser drauf verlegen, mit seinen tüchtigen Händen zu arbeiten.«
Schon wollte sie weiterschreiten.
»Ist dies kurios«, murmelte der Begleiter, »nicht nur dass er kräftig schien – nein, obendrein trug er eine Tonsur.«
»Was soll das heißen? Nur Mönche tragen Tonsuren!«
Rudolphe zuckte die Schultern. »Dann war er eben nicht nur Bettler«, meinte er, »sondern auch Mönch.«
Mehr sagte er nicht. Der restliche Heimweg verlief schweigend.
Sophia verweigerte es nicht gänzlich, an Isambours Seite zu weilen, doch sie begann, den Königspalast zu meiden. Sie wollte nicht zusehen, wie sich Cathérine und Blanche zusammentaten, sie von Théodore fernzuhalten. Stattdessen hoffte sie, er möge den Weg zu ihr finden und das verheißungsvolle, wenngleich rätselhafte erste Gespräch fortsetzen.
Eines Tages kam er tatsächlich, wurde von Dienstboten eingelassen und schritt hernach eine Stunde durch sein früheres Zimmer, ohne dass sie es wusste.
Erst als er das Haus wieder verlassen wollte, begegnete sie ihm und packte ihn freudig am Arm, um ihn zum Bleiben zu überreden.
»Das... das Haus gehört in Wahrheit dir! Es ist das Erbe deines Vaters! Du kannst immer noch hier leben und...«
Er hob den Finger an seine Lippen, auf dass sie schweigen möge.
Sie kam der Bitte nicht nach. »Und wo steckt dein treuer Freund Christian? Hat nicht zumindest er ein weiches Bett verdient, anstatt in einer der schaurigen Studentenwohnungen zu hausen? Bitte ihn doch herzukommen!«
Sein Lächeln war schmerzlich, aber zumindest verbarg er es nicht vor ihr. »Ich kann kaum glauben, dass Ihr für Christian das Beste wollt«, murmelte er. »Doch da Ihr Euch auch um Königin Isambours Wohl sorgt – so muss ich denn glauben, dass Ihr tatsächlich verändert seid.«
Er sprach immer wieder von Isambour, nicht nur an diesem Tag. Ins Haus der Guscelins kehrte er nicht wieder, jedoch betrat er die Kemenate der Königin stets dann, wenn Sophia auch dort verweilte, verbat sich jedes Wort und blickte nur gedankenverloren auf die Schwachsinnige, als wäre ihm selbst der gesunde Geist abhanden gekommen.
Sophia fiel es schwer, nicht zu verraten, wie ungeduldig und verwirrt sie sein Gebaren machte, aber sie beherrschte sich. Zu zart deuchte sie das Band, das es zwischen ihnen wieder gab, zu zerbrechlich sein Trachten nach Neuanfang und Versöhnung.
Nach einem Monat hatte sie gelernt, sich Fragen zu verbeißen und ihn nicht wieder zu drängen, an die Universität zurückzukehren. Sie war sich fast gewiss, dass er es tun würde – warum sonst bliebe er so lange in Paris? Warum sonst suchte er stets aufs Neue ihre Nähe, wenn auch in Isambours Gesellschaft?
Als sie eines Morgens früh geweckt wurde, wähnte sie Théodore ein zweites Mal ins Haus der Guscelins zurückgekehrt und rüstete
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