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Die Chronistin

Die Chronistin

Titel: Die Chronistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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stets in Trübsinn verfalle, bin ich einmal nicht bei ihm?«
    Er richtete sich auf, blickte sie fragend an, immer noch verletzlich, immer noch nackt. Der Gedanke, dass keiner mehr Théodore aufhalten konnte, wenn er es nicht tat, traf sie wie ein roher Schlag. Dagegen war sie nicht gerüstet. Sie stieß einen grässlichen Laut aus und ging mit erhobenen Fäusten auf Christian los. Er wich den Schlägen nicht aus, packte sie jedoch so sicher und fest wie einst – ganz ohne Scheu vor ihrem Leib und mit gleichem selbstverständlichen Griff, mit dem er verstörte Tiere an sich band. Denn ganz gleich, wie zerbissen die Pfoten, wie räudig das Fell und wie triefend deren Augen waren – sie verhießen ein Leben auf schlichtere, geradlinigere Weise als die verwinkelten, abgründigen Menschenseelen.
    »Scht«, machte er. »Scht... Lasst Théodore los, Sophia! Ihr könnt ihn nicht halten! Gebt ihn frei!«
    Sie trommelte ihre Fäuste auf seine Brust.
    »Aber ich habe doch auf ihn gesetzt! Ich habe ihn ausgebildet, damit er für mich lebt und lehrt und sich einen großen Namen macht. Was soll ich ohne ihn tun? Was bin ich wert ohne ihn?«
    »Sophia! Ihr seid doch so viel stärker als er! Warum könnt Ihr nicht von dem Wahn lassen, dass Ihr seiner bedürft? Lasst ihn ziehen!«
    Es klang eindringlich – zugleich mahnend und mitleidig.
    Sie schluchzte auf.
    »Ich weiß es nicht«, gab sie zu. »Ich weiß einfach nicht mehr, was ich tun soll.«
    Sophia vermochte es nicht, einen klugen Gedanken zu fassen. Es war Abend geworden, und sie schritt unruhig in ihrer Stube auf und ab, nicht einmal fähig zu bedauern, dass sie sich schon so lange nicht mehr den Wissenschaften hatte widmen können.
    Totenstill war’s im Haus. Die wenigen Dienstboten, die schon unter Bertrand die Räume sauber gehalten hatten, den Garten beschnitten und die Mahlzeiten gekocht, lebten zwar noch im Haus, aber blieben in ihren Kammern. Isidora hatten sie stets gefürchtet, und auch Cathérines Befehle hatten sie befolgt – von der Hausherrin aber, so wussten sie, stand keinerlei Mahnung zu befürchten, wenn die Wäsche nicht ordentlich gewaschen wurde oder der Staub in dichten Flocken stand. Sophia bekümmerte es nicht, dass das einst prächtige Stadthaus einem dunklen, kalten Kerker glich und dass niemand daran dachte, im Kamin Feuer zu machen und mit Kerzen oder Öllampen ein Mindestmaß an Behaglichkeit zu verbreiten.
    Sie entkleidete sich, sank ins Bett, ohne sich auch nur das Gesicht mit kaltem Wasser abzuspülen, und suchte Zuflucht im Schlaf. Verbissen presste sie die Augen zu, um alle Bilder auszulöschen, die ihr im Kopf kreisten: von Théodore, wie er ihr sagte, er wolle sich den Franziskanern anschließen. Von Cathérine, die vermeinte, dem Teufel ihre Seele gegeben zu haben. Schließlich von Christian und den Zähnen seines Vaters.
    Rasch und peinlich berührt hatte sie sich wieder aus seiner wärmenden, tröstenden Umarmung gelöst, und immer noch hatte er ihr verständnisvoll in die Augen gesehen – nicht hadernd, weil sie Théodore stets zugesetzt hatte, sondern mitleidig, weil sie nicht minder störrisch ihr vermaledeites Leben ablegen wollte als er.
    Sophia fuhr wieder auf. Unmöglich war’s zu schlafen.
    Sie setzte sich an das Schreibpult, rückte sich das Tintenfässchen zurecht und beschrieb einen Bogen Pergament.
    Christian Tarquam, schrieb sie unwillkürlich auf, Christian Tarquam hat gesagt, ich verstünde so viel von Büchern – aber so wenig von Menschen... Er hat gesagt, dass ich klug bin, aber nicht weise.
    Es währte länger als ein Jahrzehnt, dass sie zum letzten Mal von ihrem Leben berichtet hatte, aufgeschrieben, was sie verbitterte, was ihr zusetzte, was sie quälte.
    Es soll nicht wieder wehtun, hatte sie einst festgehalten, als sie nach langen Jahren Frère Guérin wieder gesehen hatte. Es darf nicht wieder wehtun.
    Jenen Satz hatte sie abgeschabt, doch Gleiches gelang ihr heute nicht.
    Ich muss Wichtiges vom Unwichtigen scheiden, dachte sie, Ich muss mit Cathérine reden, sie überzeugen, dass es nur dummer Aberglaube ist, dem sie aufsitzt, und dass ihre Seele keineswegs verloren ist. Ich muss ein Mittel finden, Théodore trotz allem aufzuhalten, auch wenn ich Christians Ratschlag damit zuwiderhandle. Ich muss...
    Die Gedanken verblassten.
    Es fällt mir nichts mehr ein, schrieb sie ohne bewusste Absicht, ich kann nicht mehr... ich kann nicht mehr...
    Sie warf das Tintenglas von sich, sodass dunkle Tropfen wie schwarzes

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