Die Chronistin
Leid ertragen mochte, das er um sich sah. Er erließ den Bauern die Abgaben, auf dass sie genug zu essen bekämen, doch dann kamen die Ritter des Königs und verlangten die Steuern, um für den Krieg gerüstet zu sein. Mein Vater weigerte sich – und die Strafe war furchtbar. Sie stachen ihm die Augen aus, sie schnitten ihm die Zunge ab, und zuletzt rissen sie ihm alle Zähne aus dem Mund. Meine Mutter hat die Zähne gesammelt, und als sie selbst Jahre später sterbend daniederlag, hat sie sie mir gereicht und von mir verlangt, ich möge Jurisprudenz studieren und Gerechtigkeit auf diese Welt bringen. Nicht nur für meinen Vater, sondern auch für meine Schwestern. Die Männer des Königs haben sie geschändet, einer nach dem anderen, und hernach haben sie sie ermordet, indem sie ihnen Spieße durch die Scham in den Leib trieben, bis sie oben beim Hals wieder herauskamen. Ich musste zusehen. Ich konnte nichts tun.«
Er sprach so gleichgültig, als hätte das schlimme Geschick nichts mit ihm zu tun, als erzählte er eine fremde Mär, die er einst zufällig vernommen hatte. Kein Bedauern klang durch – doch zugleich auch nicht der schützende Spott und das aufgedrehte Lächeln des stets als Gaukler verkleideten Mannes.
»Das ist schrecklich...«, murmelte Sophia.
Mitleid und Grauen waren ihr fremd – verstörend nah aber die vorgetäuschte Nüchternheit. Dahinter erwies sich Christian als nackt, und es graute ihr und sie schämte sich, auf ihn zu blicken.
»Aber was hat das mit Théodore zu tun?«, lenkte sie hastig ab.
Christian lächelte flüchtig. Das Lächeln galt nicht Théodore, sondern ihrem Bemühen, die steife, unnahbare Haltung zu wahren – trotz seiner Worte, trotz des zähnefletschenden Köters, trotz des raucherfüllten, stinkenden Gangs, wohin sie geraten waren.
»Ich bin keiner, der zeigt, woran er leidet«, bekundete er. »Théodore hingegen schon. Er ist ein verwöhnter Sohn aus gutem Hause, der in seinem ganzen Leben keinen einzigen Menschen hat sterben sehen. Und dennoch habe ich ihn stets schwermütig erlebt und kummervoll, weil er Euch zwar achtete, zugleich aber verfluchte. Oh, wie gering mir diese Last stets erschien. Er klagte über sein Geschick, als hätte er ein Recht dazu. Und seht, zuerst lachte ich darüber. Als ich begann, bei ihm Vorlesungen zu hören, und sich manches Mal vertrauliches Gespräch ergab, so dachte ich oft, was ist dieser Mann für ein armseliger Tor! Und zugleich habe ich es erlebt, dass ich mich in seiner Gegenwart stets fröhlicher fühlte, als mir eigentlich zumute war – schlichtweg, weil ich dazu gezwungen war. Schmerzverhangen ist sein Blick, kummervoll die Züge, und ich ahnte: Ließe ich mich in seinem Beisein in die Verzweiflung fallen, so würde ich es nie wieder schaffen, mich ihrer zu entledigen. Stattdessen muss ich an seiner Seite stark sein, muss das Leben lieben, gerade weil er es verachtet. Er ist für mich wie einer, der am Galgen hängt oder im Schuldturm hockt: Er warnt, seinem Weg zu folgen, und zwingt allen, die ihn mit Grausen bestarren, ein edleres Gebaren auf.«
Bleich lagen die gelblichen Zähne im geöffneten Amulett. Christian betrachtete sie nachdenklich – und irgendwie erstaunt, hatte er doch ein wirksames Mittel zwischen sich und dieses Zeugnis schieben können.
Sophia öffnete den Mund und versuchte zu lachen. Es misslang ihr und glich dem Kläffen des flachgesichtigen Hundes, der sich alsbald wieder drohend vor Christian aufrichtete.
»Und darum willst du mit ihm nach Italien ziehen und ein Mönchsleben führen?«, fragte sie. »Und wie kommt’s, dass du ihn zu lieben vermeinst, wenn du ihn doch nur brauchst?«
Christian neigte sich nieder, um den Köter zwischen den Ohren zu kraulen. Augenblicklich verstummte das schlechtlaunige Knurren.
»Ich würde mich verlassen und trostlos fühlen ohne ihn – und mein Leben mit nichts anderem zubringen, als mit dem Schrecken meiner Jugend zu hadern«, sagte Christian und schloss das Amulett. »So aber sehe ich ihn hadern – mit Euch. Ich sehe ihn verzweifeln – an seinem Leben. Ich denke nicht, dass er sich verändern wird, ist er erst einmal Mönch. Vielleicht kann er all seinen Besitz abstreifen – aber gewiss nicht seine Schwermut. Sie gehört zu ihm, ganz gleich, welches Leid ihn trifft oder nicht. Wisset: Manchmal verachte ich ihn für seine Schwäche. Manchmal packt mich eine Wut auf sein blasses, stilles Leiden. Aber ich brauche ihn. Und Liebe muss es doch sein, wenn ich
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