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Die Chronistin

Die Chronistin

Titel: Die Chronistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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durch die Menge hindurch. Rosalinde und Alix waren bereits verschwunden. Blanche auch – oder stand sie etwa doch noch im Hof, dort vorne, im Gespräch mit jenem schwarz gekleideten, hoch gewachsenen Mann?
    Sophia stockte der Atem, als sie ihn erkannte. Wiewohl der eigenen Glieder noch nicht Herr, stürmte sie auf die beiden zu und konnte gerade noch die letzten Worte hören, die Blanche eben sagte. Sie galten Frère Guérin, der wie die anderen von dem Aufruhr in den Hof gelockt worden war, und Sophia vermochte nichts mehr zu tun, um sie zu unterbrechen.
    »Gewiss ist es Unrecht, wenn man Sophia der Zauberei bezichtigt«, sprach Blanche, »jedoch hat Cathérine de Guscelin die Mutter nicht nur dieser Sünde angeklagt. Sie hat verraten, dass jene Ehebruch begangen hat und dass die Tochter nicht vom Samen des guten Bertrand gezeugt wurde, sondern ein Bastardkind ist. Und solch einem Weib soll es gewährt sein, dass es fortwährend Zeit bei unserer Königin Isambour verbringt und sie mit seiner Bösartigkeit vergiftet?«
Anno Domini 1245
Damenstift zu Corbeil
    Als der schreckliche Tag sich dem Ende zuneigte, fragte sich Roesia, wie sie jemals ohne Sœur Yolanthes Hilfe ihr Amt hatte ausüben können. War sie nicht stets eine besonnene, kühl handelnde Äbtissin gewesen? Wie konnte es sein, dass sie nun kaum mehr zu atmen, geschweige denn zu reden und zu handeln wusste, ohne dass die Augen der anderen beruhigend ihre Schritte leiteten?
    Zuerst schämte sie sich ihrer Schwäche – dann fügte sie sich in das genügsame, kindliche Glotzen, mit dem sie darauf wartete, was die andere zu entscheiden gedachte.
    Sœur Yolanthe musste nicht viel befehlen. Nun, da binnen weniger Tage die vierte ihrer Mitschwestern tot entdeckt worden war, erwies sich, was darauf zu folgen hatte, als traurige, aber längst erprobte Prozedur.
    Sœur Brunisente, die Mesnerin, wurde ausführlich befragt, wo und warum sie die tote Eloïse gefunden hatte. Hernach folgten Yolanthe, Roesia und die Krankenschwester ihr an die Stätte des Verbrechens.
    Roesia hielt den schmerzenden Kopf gesenkt. Seit sie erfahren hatte, dass die tote Eloïse an gleicher Stelle hockte wie vor einigen Tagen die vertrocknete Sophia – im geheimen Raum neben der Krypta –, hatte sie kein Wort über die Lippen gebracht.
    Ohne Zweifel musste sie bei dem scheußlichen Mord – die Krankenschwester bestätigte alsbald, dass Eloïse erwürgt worden war wie all die anderen – zugegen gewesen sein. Geübt darin, alle Schrecknisse zu überwinden, setzte die Erinnerung bei dieser grässlichen Stunde aus; die Spuren allerdings, die ihr Körper aufwies, bezeugten den Kampf, der stattgefunden haben musste, als sie Eloïse zu retten versucht hatte und dem Mörder womöglich selbst nur mit knapper Not entkommen war.
    Ihr rechtes Auge war mittlerweile so zugeschwollen, dass sie nicht mehr von der Welt sah als einen dünnen Spalt. Und obendrein fühlte sie jeden Einzelnen ihrer Finger schmerzen, als hätte sie verzweifelt versucht, jemanden zu packen und zurückzuzerren.
    Oh, warum vermochte sie nicht gegen das Schwarz anzukämpfen, das die vergangene Nacht schluckte? Hatte sie in den Tiefen des Gedächtnisses nicht auch die Erinnerung aufstöbern können, wo sich Sophias zweite Chronik verbarg?
    So kämpfte sie mit sich und hörte kaum, dass eine Frage an sie gerichtet wurde.
    »Ehrwürdige Mutter«, fragte Sœur Brunisente. »Was habt Ihr hier unten in der Krypta getan?«
    Roesia starrte sie überrascht an. Langsam dämmerte ihr, dass Sœur Yolanthe den beiden Schwestern einen Teil, jedoch nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte. Sie wussten – oder vielleicht ließ ihre Verletzung es vermuten –, dass sie bei der Schreckenstat zugegen gewesen war. Sie ahnten jedoch nicht, dass sie hier die Chronik gesucht – und auch entdeckt hatte.
    Fahrig war Roesias Blick. Er glitt suchend die tiefen Wände entlang und blieb schließlich bei der nachdenklichen Sœur Yolanthe hängen. Zwar schwieg jene zurückhaltend – schien aber ob des beobachtenden Blickes zu erwarten, dass Roesia sich ihnen erklären würde.
    Sie konnte es nicht.
    Wer immer Eloïse getötet hat, dachte sie, hat auch die Chronik gestohlen – oder erneut versteckt.
    Die Erleichterung, die sie ob dieses Gedankens befiel, war befremdend und zugleich so beruhigend, dass sich erstmals an diesem Tag ihre Gesichtszüge lockerten. Das geschwollene Auge hörte zu schmerzen auf, und die verkrampften Finger lösten sich.
    Wenn auch

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