Die Chronistin
alles andere im schattigen Dickicht ihres Gemüts verloren gegangen war, so spuckte jenes doch eine allzu deutliche Gewissheit aus: Sie hatte aus gutem Grund Sophias Chronik gesucht. Sie hatte sie verstecken wollen.
Denn Sophias Chronik durfte von niemandem gelesen werden.
Sie war gefährlich.
Dass sie – wenn auch nichts anderes – zumindest dieses wusste, machte sie wieder zur Herrin der Lage. Anstatt zu antworten, befahl sie die Tote fortzuschaffen und die anderen Schwestern zum Gebet zusammenzurufen.
Die Krankenschwester und die Mesnerin gehorchten sofort – nur Sœur Yolanthes Blick blieb nachdenklich auf Roesia haften.
»Könnt Ihr Euch nun endlich an das erinnern, was geschehen ist?«, fragte sie, als die beiden anderen sich entfernt hatten. Zuvor hatten sie noch den grausigen Anblick von Eloïse, die mit schreckgeweiteten Augen ihren Mörder anstarrte, verborgen, indem sie über die Tote ein Leichentuch geworfen hatten.
»Was meint Ihr?«, fragte Roesia.
»Ihr kamt doch zu mir, weil Ihr nicht wusstet, was geschehen ist«, drängte Sœur Yolanthe. »Wisst Ihr es nun? Habt Ihr den Mörder gesehen?«
Roesia senkte den Kopf. Sœur Yolanthe wusste von der Chronik. In ihrer Verwirrung hatte sie ihr anvertraut, dass sie sie gefunden hatte.
»Nun«, verzichtete die andere darauf nachzubohren, »ich rate Euch, ein wenig an dieser Stätte zu verweilen. Vielleicht vermögt Ihr Euch solcherart wieder ins Gedächtnis zu rufen, was geschehen ist.«
Sie hatte nicht erwartet, die andere so schnell zum Gehen zu bewegen. Überrascht blickte Roesia ihr nach, für die Stille so dankbar, die sich nach dem Weggang von Yolanthe über sie legte, dass sie sie nicht erforschte, sie nicht nach dem leisen Echo der letzten Stunden befragte.
Es ist gut, dachte sie und ergab sich der wohltuenden Stille, es ist alles gut, die Chronik ist wieder verschollen. ..
Sie wusste später nicht mehr, ob sie all die Stunden über gesessen, gekniet oder gestanden hatte. Sie wusste auch nicht, ob sie auf die tote, vom Leichentuch verborgene Eloïse gestarrt oder jene gar nicht wahrgenommen hatte.
Als Sœur Yolanthe wieder zu ihr kam, schien es, als habe sie die Zeit in einem traumlosen Schlaf verbracht. Davon erfrischt, schüttelte sie den Kopf.
»Warum... warum hat man Eloïse noch nicht geholt, um sie aufzubahren?«, fragte sie.
Der Blick von Sœur Yolanthe war nicht mehr nachdenklich – sondern weich und irgendwie mitleidig. Nie hatte sie Roesia als sonderlich warmherzig empfunden – nun aber trat sie auf sie zu, vergaß den gebührenden Respekt und legte Roesia mütterlich den Arm um die Schultern.
Yolanthe antwortete nicht auf ihre Frage.
»Ich weiß jetzt, wo die Chronik ist«, sagte sie stattdessen. »Und ich weiß, wer die Chronistin und all die anderen getötet hat.«
Kapitel XVIII.
Anno Domini 1218 bis 1235
Sophia stand mit grauen, zotteligen Haaren vor ihm. Sie hatte zwar versucht, die Strähnen aus dem Gesicht zu streichen, doch ihr weißes Gebende lag verschmutzt und verloren bei der Mauer.
Hastig trat sie zu dem steinernen Kamin, dessen Feuer ein kühles, nüchternes Zimmer wie das von Frère Guérin zwar wärmen, aber nicht behaglich stimmen konnte. Sie wartete, dass die sachte lodernden Flammen sie beleben würden wie vorhin das Erschrecken über Blanches denunzierende Worte, dass sie Genugtuung erzeugen würden und Hohn, weil nun die Last des jahrelang gehüteten Geheimnisses auf seine Schultern verschoben war.
Stattdessen blieb es in ihr stumm, und seine Worte schienen ins Leere zu gehen.
»Warum... warum habt Ihr es mir nicht gesagt, dass diese unselige Nacht Folgen zeitigte – und dieses Mädchen daraus hervorging?«
Sophia betrachtete ihn ausdruckslos.
Weil Ihr mich nicht danach gefragt habt, dachte sie. Weil Ihr mich von Wachen habt hinausschleifen lassen, noch ehe ich mich Euch anvertraut habe.
Aber was machte das aus – nun, da die eigene Tochter mit Vergnügen zugesehen hatte, wie Gret sie beinahe ums Leben brachte, und sie ihr trotzdem nicht zürnen konnte? Nun, da sie Théodores Absicht, Paris zu verlassen, nicht länger im Wege stand?
Ob ihrer Stille wurde Frère Guérin unruhig, zuckte nicht nur mit seinem Bein, sondern auch mit den Augenlidern.
»Ich... ich bereue nichts so sehr wie diesen Augenblick der Schwäche. Zu Unrecht habe ich mit dem König gehadert, wo er doch schließlich das Land verändert und Frankreich groß gemacht.«
Sophia presste die immer noch bläulich verfärbten
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