Die Chronistin
Genuss verzehrten. Sie hätte sie mit ruhigen Worten darauf vorbereiten sollen, dass eine der ihren einen womöglich schrecklichen Tod gestorben und ohne die üblichen Ehren ins Jenseits geschritten war. Nun hatte eine andere es offenbar ausgeplaudert – und gewiss mit grässlichen Worten ausgeschmückt, dass Ragnhild von Eistersheim oder Sophia, wie man sie gemeinhin nannte, seit Jahren tot in einer Kammer unter der Sakristei gehockt war.
Roesia hatte ihren Platz erreicht und machte dort eine verheißungsvolle Pause. Sie war sich nicht sicher, wie sie die Gerüchte, die sich in Windeseile im Damenstift auszubreiten begannen, am besten eindämmen konnte.
Ich muss die Chronik aus dem Spiel bringen, dachte sie schnell. Weil niemand von ihnen im Genauen weiß, was Sophia in ihren letzten Lebensjahren aufgeschrieben, beginnt man darin ein großes Geheimnis zu wittern. Und ich muss den Strick unerwähnt lassen, mit dem sie erdrosselt wurde...
Sie war sich freilich nicht sicher, ob nicht das grässlichste Detail der Geschichte schon längst die Runde gemacht hatte.
»Setzt euch!«, gebot sie den Schwestern und unterstrich ihre Worte mit einer raschen Handbewegung. Zufrieden gewahrte sie, dass sich nicht in alle Gesichter die fiebrige Erregung gesenkt hatte. Sœur Eloïse, die seitlich neben ihr hockte, wirkte gleichmütig. Der Blick, den sie ihr zuwarf, besagte zumindest nichts weiter als Verachtung für diesen Haufen an überreifen Mädchen und Frauen. Allesamt stammten sie aus adeligen Familien und waren dem Stift nicht anvertraut worden, um hier die Ewigen Gelübde abzulegen, sondern um ein bequemes, wiewohl gottgefälliges Leben zu führen. Gerade die Jüngeren konnten jederzeit eine andere Entscheidung treffen. Es geschah zwar nicht oft, aber regelmäßig, dass eine der ihren das Stift wieder verließ, um zu heiraten. Dann glotzten die anderen neidisch, was Roesia noch weniger verstand als Tratschsucht. Keinem Umstand dankte sie so sehr wie dem, dass sie eines Tages zu alt geworden war, um noch einmal in ein Ehebett gelegt zu werden!
Eloïse erging es ähnlich – und gewiss auch den meisten ältlichen Witwen, die ihre Reihen teilten und die gerne auf einen groben Mann verzichten wollten. Freilich hatten manche von ihnen, wenn schon nicht unter fehlenden Heiratskandidaten zu leiden, doch darunter, dass man sie im Damenstift jeglicher weltlicher Macht beraubt hatte, dass sie keine Ränke mehr spinnen konnten, um den Aufstieg von Söhnen und Enkeln zu bestimmen, dass sie vielmehr als störende Alte in ein Gefängnis verbannt worden waren, in dem nichts so sehr quälte wie die Langeweile.
Sie begreifen nicht, dachte Roesia manches Mal und fühlte sich von Sœur Eloïse am besten verstanden, dass auf dieser Welt alles flüchtig ist, ein Windhauch, der den vorangegangenen ablöst, ohne jemals kälter und schärfer zu wehen.
Froh konnte sein, wer sich rechtzeitig davor duckte und dem Jammertal entfloh. Labsal für die Seele vermochte nur dort erlangt zu werden, wo es einen klaren Rhythmus, eine klare Ordnung gab – nicht aber Kriege und Kämpfe und Seelenschmerzen.
Auch Sophia hatte das dereinst erkannt und sich gewiss auch darum ihren Schriften geweiht.
»Ihr wisst«, begann Roesia schließlich zu sprechen, »ihr wisst, dass man in einem verborgenen Seitenraum der Kapelle eine Tote fand und diese unsere Schwester Sophia war, welche als Chronistin diesem Kloster diente. Ihr wisst ebenso, dass jene – als man sie zuletzt lebend sah – reich an Lebensjahren war. Selten gestattet es der Herr einem Menschen, so lange, nämlich an die achtzig Jahre, auf dieser Welt zu weilen. Ganz gleich also, unter welchen Umständen sie starb – und über jene bitte ich euch, kein Wort zu verlieren, solange man sie nicht mit kluger Bedachtsamkeit klären wird – ja, ganz gleich nun, wie ihre letzten Stunden aussahen: Sie hat verdient, diese Welt zu verlassen. Sie hat mehr erlebt und erlitten, als manch ein anderer jemals nur zu hören bekommt...«
Sie machte eine kurze Pause. Ihre letzten Sätze waren genau betrachtet ein Fehler – denn in vielen Ohren erwirkte die Erwähnung eines aufwühlenden Lebens nicht Entsetzen, sondern Neid.
»Nun gut«, fuhr sie fort, »die letzten fünfzehn Jahre ihres Lebens nun hat Sophia in unserem Damenstift verlebt, die ersten von diesen an der Seite unserer Königinwitwe Isambour, welche ein heiligengemäßes Leben geführt hat. Vor drei Jahren ist Sophia verschwunden, spurlos und ohne
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