Die Chronistin
Ankündigung, und heute wollen wir zunächst nicht über ihren Tod erschrecken oder uns über die Stätte wundern, wo sie auftauchte, sondern Freude zeigen, dass wir ihrem langen, ereignissatten Leben einen würdigen Abschluss bereiten können, indem wir sie aufbahren, die Gebete sprechen und die Messe lesen.«
Dass sie aufrecht stehen blieb, ließ erahnen, dass sie noch etwas hinzuzufügen hatte. Still verhielten sich darum fast alle.
Eine aber wollte es ihr nicht gönnen.
Eine Stimme, dunkel, tief und krächzend, der Freundlichkeit ebenso bar wie der Hast, hub inmitten von Roesias bedachtsamer Rede zu fragen an: »Was verschwendet Ihr so viele höfliche Worte an Sophia? Ganz gleich, warum sie verschwunden ist und wie sie sterben musste: Keinen wird’s in Wahrheit bekümmern, denn keiner wurde hier in diesem Kreise so gehasst wie sie. Ich weiß, wovon ich rede. Ich habe sie mein Leben lang gefürchtet – und verachtet.«
Kapitel III.
Anno Domini 1192 bis 1193
Es war Markttag in Lübeck.
Händler boten in der Mittagssonne, die – wiewohl trüb verhangen – seltsam brannte, ihre Ware feil: matte Tonkrüge und fein gegerbtes Leder, dicke Seile für den Fischfang und glatt geschliffene Holzteller, scharfe Messer und mit farbigen Steinen besetzte Kämme. Ferkel kreischten wie neugeborene Kinder, fauliges Obst zerplatzte klatschend, und vom Hafen hing tief und dicht wie der Dunst der salzige Gestank nach Seetang, Fisch und Algen.
Nichts von alledem sah Sophia, als sie von der Tante durch die Straßen geschleift wurde, vorbei an der steinernen Domkirche, wohin sie sich ansonsten zum sonntäglichen Gottesdienst aufmachten, oder an der Marienkirche, wo die schnaufende Bertha schon manches Mal im Gebet zusammengesunken war: Dann klagte sie – am liebsten vor Sophias gleichgültigen Ohren – über das schreckliche Los, welches ihr die aufmüpfige Nichte zugeführt hatte.
Nicht, dass sie schlecht erzogen wäre oder schändliche Reden führte, die Sünde der Genusssucht an den Tag legte oder zu oft beim Gang durch die Straßen dorthin blickte, wohin ein keusches Mädchens niemals schaut – zum Pack nämlich: trinkenden, würfelnden Männern und Lasterweibern, die man Kussmäuler und Sausuhlen nannte.
Nein, das, womit Sophia seit einem halben Jahr ihrer Tante Bertha das Leben schwer machte, war ein viel schlimmeres, weil nie gekanntes Vergehen. Sieben Kinder hatte die schnaufende Frau großgezogen, und dabei war ihr Leib breit geworden und der Atem immer dünner – aber niemals hatte ihr eines das Gebaren zugemutet, das Sophia an den Tag legte.
Freilich konnte man von Anfang an nichts Gutes von dem Mädchen erwarten. Nicht nur, dass sie aus dem Kloster kam, von dort aber aus nie genanntem Grund verjagt worden war. Obendrein entstammte sie den Lenden eines hochadeligen Mannes, der seinerzeit die einfache Schwester verblendet und zu einer Ehe verführt hatte, die unstandesgemäß war und folglich nicht nach der göttlichen Ordnung geschlossen worden.
Die Leute schwatzten zwar, der Vorteil läge bei ihr – denn schließlich sei sie vor der Eheschließung nur ein einfaches Fräulein Karlssohn gewesen, danach aber eine von Eistersheim. »Aber was«, so hatte Tante Bertha schon am ersten Abend auf Sophia eingeredet, »ist denn dein hochwohlgeborener Vater schon anderes gewesen als ein verarmter Krüppel, dessen nässende Wunden man stets hat pflegen müssen?«
Ihre schlechte Meinung über Bernhard von Eistersheim übertrug sie auf seine Tochter. Sollte die sich doch bloß nichts darauf einbilden, im Kloster gelebt zu haben, zumal der Herr ihr am Ende doch jenen Platz zugewiesen hatte, der einer Bürgerlichen nun eben zustand: im angesehenen, aber ärmlichen Stadthaus der Karlssohns, wo es keine Wände aus Stein gab, sondern nur aus Holz, wo sich die ganze Familie – und derer waren sie mitsamt Großeltern und Schwiegertöchtern zehn – sich eine Kammer teilte und man nächtens das Stöhnen der Begattung hören konnte, wo schließlich das Sonnenlicht frühmorgens weckte, weil das Dach nur mit Grasboden gedeckt und mit Schilf belegt war und dieses Flechtwerk Löcher hatte. Wenn es regnete, tropfte es ins Haus – ein Umstand, den Tante Bertha niemals ungemütlich fand, denn dort, woher sie kam, war es noch schlimmer gewesen. Schweine hatten da im Haus gelebt und sich auf dem Küchenboden gesuhlt.
»Ei, geh schneller, Mädchen!«, drängte sie nun die Nichte durch die Straßen. Der Griff ihrer fetten Hände war
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