Die Chronistin
Schwestern vergessen zu lassen, was Cathérine, Sophias Tochter, als Erstes über das Vermächtnis der toten Mutter gesagt hatte: dass sie wüsste, was in der Chronik zu lesen stand; dass jene ihr daraus vorgelesen hatte.
Nun dachte niemand mehr daran, solches zu hinterfragen, und Roesia, die eben noch den Mund aufmachen wollte, um Eloïse zu ermahnen, sagte nichts weiter als: »Sorg dafür, dass sie in Frieden essen und sich hernach zerstreuen!«
Dann wandte sie sich einfach um und verließ die Versammlung – ein ebenso einzigartiges wie unbegreifliches Gebaren.
Dass die Mutter Äbtissin ihnen ihre Gesellschaft versagte und wortlos ging, setzte den Schwestern prompt zu. Wo mahnende Worte nichts bewirkt hätten, genügte dieses Gebaren, auf dass das Gezeter in Murmeln überging, noch ehe Roesia die Tür erreichte. Ohne sich zu wenden – was noch mehr Eindruck machte und einschüchterte –, schritt sie hindurch, um erst draußen laut zu seufzen.
Sie merkte, wie ihre Hände leise bebten, den Druck bezeugten, so vieles gleichzeitig verhindern zu müssen: dass Streit ausbrach oder Panik, dass unangenehme Fragen gestellt wurden oder haltlose Verdächtigungen ausgesprochen.
Wenn du wüsstest, Sophia, wie viel Ärger du mir machst, ging es Roesia durch den Kopf, und sie war der Verstorbenen jäh feindselig gestimmt. Freilich glich ihr Unbehagen nicht dem der anderen, die mit Sophia als einem Weib haderten, das sich als klüger und gelehrter als alle erwiesen hatte, dessen Stolz stets einer Auflehnung gegen den göttlichen Heilswillen gleichkam, das sie schließlich durch das jahrelange Schreiben befremdete. Nein, all das hatte Roesia niemals beunruhigt. Im Gegenteil: Als sie in das Damenstift eingetreten war, erahnte sie in Sophia eine Gleichgesinnte – eine Frau, die sich vom nüchternen Verstand leiten ließ, die nicht durch unangenehme Klatschsucht auffiel, die in der sauberen, leblosen Welt der Bücher eine Heimat fand, wie sie selbst eine suchte. Doch nun erwies sich eben jene Seelenfreundin als Störenfried – ganz gleich, ob sie daran Schuld trug oder nicht.
Jenes Hadern begleitete Roesia den übrigen Tag, vergällte ihr das Gebet und ebenso den kurzen Schlaf, in den sie sank, als sie sich auf ihrer Pritsche zur Ruhe legte. Solches tat sie selten – und als sie davon erwachte, fühlte sie sich nicht erfrischt und ausgeruht, sondern von gallig schmeckenden Träumen verfolgt, die die Ermordete und das Gezänk, das ihr Fund ausgelöst hatte, durch den erschlafften Geist getrieben hatten.
Schwer nur fand sie nach dem dämmrigen Schlummer wieder zu sich. Sie hatte sich noch nicht wieder aufgerichtet, da hörte sie es obendrein störend an die Türe pochen – beinahe so wie gestern zur nächtlichen Stunde, da man ihr Sophias Tod verkündet hatte.
Diesmal war es nur eine Stimme, die zu ihr sprach. Sie gehörte Sœur Eloïse. »Mutter Roesia!«, bat jene beinahe flehend. »Kommt sofort mit mir! Schreckliches ist geschehen!«
Roesia hörte sich seufzen und schmeckte den eigenen schlechten Atem vor dem Mund aufsteigen. Als sie sich erhob, um die Zelle zu öffnen, spürte sie schmerzhaft, wie das Blut in die Gelenke der müden Füße floss.
»Kann denn nicht endlich Ruhe sein?«, fragte sie unwirsch.
Eloïse suchte so nüchtern zu blicken, wie sie es gewohnt war und womit sie sich bei Roesia lieb gemacht hatte. Dennoch war sie kalkweiß im Gesicht.
»Es ist... es ist...«, setzte sie stotternd an.
»Sprich es aus!«
»Man hat Cathérine gefunden, ich meine, Sœur Clarisse, wie sie sich hier im Damenstift nennt. Sie hockte in ihrer Zelle. Leblos. Tot. Mit einem Strick um den Hals.«
Kapitel V.
Anno Domini 1193
Aus der Chronik
Jahrelang musste das kleine Frankreich auf das riesige Angevinische Reich starren – ohne Aussicht, ihm jemals an Rang und Macht und Größe gleichzukommen. Nun aber war die Möglichkeit gekommen, einen siegreichen Krieg zu führen.
Der tapfere Richard Löwenherz, der im Heiligen Land als Held gefeiert wurde, indessen Philippe von Frankreich geschmäht und krank vorzeitig heimkehrte, hatte sich an der Stätte seines Triumphes – in Antiocheia, welches er erstürmt – einen Feind gemacht.
Als er dessen Lande bei der Heimreise durchquerte, wurde er von jenem – es war dies Leopold von Österreich – gefangen genommen und musste auf Burg Dürnstein hocken. Und schlimmer noch sollte es für ihn kommen, denn Leopold war nicht der größte Gegner.
Auch Kaiser Heinrich (der VI.
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