Die Chronistin
Wie kam es, dass man sie mit nach Frankreich schickte?
Freilich konnte Sophia bislang ebenso wenig begreifen, warum sie selbst auserwählt worden war, wohingegen fast alle anderen Weiber des dänischen Hofstaats sich weigerten, der Prinzessin zu folgen und die ferne Hochzeit zu bezeugen.
»Manchmal scheint es«, begann eben Gret zu erzählen – so verschwörerisch und heiser, als folgte sie einer uralten Überlieferung, an der kein Wort zu ändern war. »Gar manchmal scheint es, dass Isambour nicht von dieser Welt stammt. Man sagt ihr nach, dass sie die Tochter einer Meermaid sei, welche ein König geschwängert habe. Drei Tage lebte er mit ihr – doch als er wieder zurückkehrte in die Menschenwelt, so waren drei Jahre vergangen. Er beichtete bei einem Priester von dem seltsamen Walten, dem das ferne Meerreich unterlag – und dieser verbat ihm ängstlich, jemals dorthin zurückzukehren. Indessen gebar die Meermaid unter Schmerzen ein Kind, wurde, geschwächt, wie sie war, von den Wellen mitgerissen und schließlich von den Ungeheuern zerfleischt, die in der dunklen Tiefe der Nordsee hausen und die ihr Blut und ihre Nachgeburt gerochen hatten. Der Säugling aber ward an den Strand gespült, dort gefunden und zu seinem Vater gebracht. Der kleine Leib glich dem eines Menschenkindes. Kein Zeichen schien die Meermaid hinterlassen zu haben; kein Mal erinnerte an die fremde Welt. Und dennoch...«
Gret hielt inne. Obwohl sie schnell und ohne Aufblicken gesprochen hatte, lag nicht die übliche Klatschsucht in ihrem Reden, sondern tiefe Ernsthaftigkeit. Sophia wusste nichts damit anzufangen. In der dunklen Kammer, wohin Gret sie gebracht hatte und worin sie die gefahrvolle Reise verbringen sollte, begann es ihr eng und heiß zu werden. Bei jeder Welle, die das noch ankernde Schiff erfasste, schien der Boden unter ihr zu knirschen und die Decke sich mit dumpfem Knarren zu senken.
Freilich währte es nicht lange, und jene Geräusche – zwar unheilvoll, jedoch gedämpft – wurden von einem viel lauteren, viel schrilleren, viel entsetzlicheren Laut abgelöst.
Ein Schreien erklang, wie Sophia es noch niemals gehört hatte: nicht aus den Mündern Siechender, nicht aus dem Maul der schwitzenden Bertha, nicht wenn mürrische Nonnen miteinander zankten.
Sie zuckte zusammen – wie Gret.
»Lieber Himmel, über lange Wochen gab sie Ruhe, jetzt aber beginnt es von Neuem!«, stieß jene aus, nicht nur erschrocken, sondern erfüllt von heiliger Ehrfurcht. »Ich hätte es beschwören können, dass solches geschieht – denn vorhin kam der Priester angekrochen, um mit ihr ein Gebet zu sprechen, und kaum dass er ihr nahe kam...«
Sie brach ab, stürmte davon und scherte sich nicht, dass Sophia ihr folgte und jenen Weg zur Kammer der Prinzessin nahm, den die Schmaläugige eben noch hatte verweigern wollen.
Dort aber, woher das schreckliche Gekreische stammte, erblickte Sophia das Unheimlichste, was ihr je vor Augen gekommen war.
Sophia erwartete von Gret, dass sie eingreifen möge. Doch die sonst Geschwätzige, verblieb im Abstand zu Prinzessin Isambour und bestarrte sie so respektvoll wie eine Madonna.
Die anderen Frauen, die sich bei ihr befanden, verhielten sich weniger starr und lautlos, aber wollten desgleichen nicht einschreiten. Das befremdende Verhalten von Isambour, das Sophia fassungslos bestaunte, deuchte sie nicht ungewöhnlich. Sie beredeten es so nüchtern, wie der Schlachter es aufnimmt, wenn ein Schwein beim Abstechen quietscht – wiewohl Sophia den Eindruck hatte, dass Isambours Laute weitaus schlimmer tönten.
»Ja, sonderlich ist die Königsfamilie von Dänemark«, murmelte eine, die Sophia vertraulich zuzwinkerte. »Auch König Knut, Isambours Bruder, ist launenhaft und ungeduldig, brüllt, wenn ihm etwas zuwiderläuft und neigt dazu, selbst Kirchenmänner mit Fäusten zu schlagen.«
Grinsend nickte eine andere. »Als er sechzehn war«, erzählte sie mit begeistertem Blitzen, »hat er einen Priester im Jähzorn erschlagen. Ein Jahr musste er hernach Buße tun, fasten und täglich die Messe besuchen und zu Fuß zum Dom von Roskilde pilgern.«
»Und doch«, schwatzte die andere fort, »ist sein Gemüt viel friedfertiger, als das seines Vaters war. Denkt Euch, König Waldemar hat selbst den eigenen Schwager grausam zugerichtet.«
Verwirrt blickte Sophia von der einen zur anderen und konnte nicht begreifen, dass niemand sich um Prinzessin Isambour scherte, gleichwohl sich jene derart schrecklich
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