Die Chronolithen
Energie, und dass es einer Technik mit der Bezeichnung »langsame fermionische Dekohäsion« bedarf, damit sich diese Manipulation auf vernünftigen Energieniveaus abspielt. Aber was wirklich da unten im verfilzten Origami der Raumzeit geschieht, begreife ich so wenig wie ein Neugeborenes die Oberwelt. Es heißt, die neun-dimensionale Geometrie sei eine Art Selbstgespräch. Schade, dass ich die Sprache nicht verstehe.
Doch Sue verstand sie, und ich glaube, die Tiefe ihres Verständnisses wurde nie gebührend gewürdigt.
Die Bundesregierung hatte sie einerseits wie einen Verbündeten und andererseits wie eine Bürde behandelt, doch man hatte sie auch permanent unterschätzt. Sie war derart zu Hause in der Calabi-Yau-Geometrie, dass ich zu der Überzeugung kam, sie müsse mit wenigstens einem Fuß in dieser Welt stehen – sie hauste in diesen Abstraktionen, wie ein Astronaut in der Fremde eines fernen Planeten hausen mochte. Es gebe kein Paradoxon, meinte Sue einmal. Ein Paradoxon sei nur die Illusion, die man zu sehen bekomme, wenn man ein n-dimensionales Problem durch ein dreidimensionales Schlüsselloch betrachte. »Alles steht in Verbindung, Scotty, auch wenn wir die Schleifen und Knoten nicht sehen können. Vergangenheit und Zukunft, Gut und Böse, hier und dort. Alles ist eins.«
Deutlicher gesagt, war es Sues Mitstreitern bereits gelungen, tau-turbulente Mini-Ereignisse zu produzieren. Zwar nur Sandkörner im Vergleich zu Kuins Chronolithen, aber prinzipiell das Gleiche. Und nun glaubte Sue, die Ankunft eines Chronolithen vereiteln zu können, indem sie die gleiche Manipulation in eben dem Raumbereich durchführte, in dem sich der Chronolith manifestieren sollte.
Fast ein Jahr lang hatte sie das Projekt vorangetrieben, doch die globalen Überwachungssysteme, die die Ankunft von Chronolithen vorhersagten, waren entweder streng geheim oder in einem desolaten Zustand (oder beides) und die Militärbürokratie hatte lange gebraucht, um Sues Pläne zu prüfen und schließlich zu genehmigen. Wyoming sei die erste wirkliche Gelegenheit, meinte Hitch – und vielleicht auch die letzte. Und auch Wyoming hatte seine Tücken; der Bundesstaat war inzwischen ein Mekka für Copperhead-Milizen unterschiedlicher (häufig unverträglicher) politischer Richtungen. Gut dagegen war ein sattes dreiwöchiges Vorlauffenster und volle militärische Unterstützung. Das Projekt wurde nicht öffentlich gemacht, um nicht noch mehr Kuinisten anzulocken; es wurde geheimgehalten, aber halbherzig würde es nicht sein.
Gut und schön, sagte ich zu Hitch, aber das erkläre nicht, warum ich in einem Truck sitze und mir anhöre, was sich immer mehr wie ein Werbespot anhöre.
Hitch wurde feierlich: »Scotty«, sagte er, »das ist kein Werbespot. Nichts liegt mir ferner. Ich kann dich gut leiden, aber ich bin überzeugt, du wärst kein Gewinn für dieses Kommando. Was du hier erreicht hast, ist großartig, und es ist, weiß Gott, nicht leicht, in solchen Zeiten eine Familie zusammenzuhalten, aber was wir brauchen, sind Techniker und Ingenieure und Burschen, die mit schwerem Gerät umgehen können, und keinen, der gebrauchten Plunder auf einem Flohmarkt verhökert.«
»Sauber.«
»Entschuldige, aber sag doch selbst.«
»Nein, du hast ja Recht.«
»Sue will dich dabei haben, aus Gründen, die sie nur andeutet.«
»War nicht die Rede von einem Pfeil?«
»Na ja, es ist mehr wie dieser Zeitvertreib, wo man die Punkte verbindet. Willst du eine Geschichte hören?«
»Wenn du auf die Straße achtest.« Die Hälfte aller Straßen in Minneapolis wurde längst nicht mehr überwacht. Um Unfälle zu vermeiden, war man ganz auf die Bordsysteme angewiesen. Die Abstandsmelder schrillten, als Hitch zu nahe am Karren eines Hausierers vorbeifuhr.
»Ich hasse Verkehr«, sagte er.
Vor sechs Monaten war er im Auftrag von Sue in El Paso gewesen, um Morddrohungen nachzugehen, die sie per E-Mail bekommen hatte, obwohl ihre Adresse nur ein paar nahen Mitarbeitern hätte bekannt sein dürfen.
Morris Torrance war mit Sues Sicherheit betraut, aber nur theoretisch – praktisch oblag sie Hitch. Hitch unterhielt gute Beziehungen zu kuinistischen Kreisen und pflegte ein Image, das Gangstern auch dann noch imponierte, wenn sie zu mehreren waren. Er war kampferprobt und es gab ganz bestimmt (ich sollte vielleicht vermutlich sagen, denn ich habe ihn nie gefragt) keine Waffe, mit der er sich nicht auskannte.
Morris hatte die Drohungen bis zu einer großen
Weitere Kostenlose Bücher