Die Company
noch nicht erforscht haben. Die Tragödie des von uns so genannten Marxismus-Leninismus war, dass Lenins Hoffnung und Sinowjews Erwartung, die deutsche Revolution werde ein Sowjetdeutschland etablieren, vereitelt wurden. Das erste Land, das das Experiment gewagt hat, war nicht das proletarisch-reiche Deutschland, sondern das bäuerlich-arme Russland. Die Kapitalisten werden es einfach nicht müde, uns vorzuwerfen, wir wären ein rückständiges Land, aber bedenken Sie, wo wir herkommen. Ich bin der Ansicht, dass sich unsere Kommunisten in zwei Gruppen einteilen lassen: Zaren, die für Mütterchen Russland und die Sowjetmacht einstehen, und Träumer, die für das Genie und die Großzügigkeit des menschlichen Geistes einstehen.«
»Meine Mutter hat häufig vom Genie und der Großzügigkeit des menschlichen Geistes gesprochen.«
»Ich habe nichts gegen die Ausweitung der sowjetischen Macht, aber im Grunde meines Herzens gehöre ich, wie Ihre Mutter, zur zweiten Kategorie. Sind Sie vertraut mit Leon Tolstoi, Jewgeni? In einem seiner Briefe heißt es: ›Die Veränderungen in unserem Leben dürfen nicht aus unserer geistigen Entschlossenheit resultieren, eine neue Lebensform zu wagen, sondern müssen aus der Unmöglichkeit resultieren, anders zu leben, als unser Gewissen es verlangt.‹« Stariks Augen loderten vor Leidenschaft. »Unser politisches System, soweit es einer geistigen Entschlossenheit entspringt, eine neue Lebensform zu wagen, ist fehlerhaft. (Was ich sage, bleibt bitte unter uns, sonst könnte ich wegen Hochverrats angeklagt werden.) Der Fehler hat zu Verirrungen geführt. Aber welches politische System kennt die nicht? Im vorigen Jahrhundert haben die Amerikaner Wolldecken von Soldaten eingesammelt, die an Pocken gestorben waren, und sie an die Indianer verteilt. In Frankreich haben die Katholiken den Protestanten schwere Gewichte an die Füße gebunden und sie in den Fluss geworfen. Die spanische Inquisition hat Hebräer und Muslime, die zum Christentum übergetreten waren, auf dem Scheiterhaufen verbrannt, weil sie die Aufrichtigkeit der Konversion in Zweifel zog. Die katholischen Kreuzritter haben während ihres heiligen Krieges gegen den Islam die Juden in den Tempeln von Jerusalem eingesperrt und bei lebendigem Leibe verbrannt. Mit all diesen Beispielen will ich sagen, dass unser kommunistisches System, wie andere politische Systeme vor ihm, die Verirrungen unserer Zaren überleben wird.« Starik füllte sein Glas erneut aus der Thermosflasche. »Wie lange waren Sie in Amerika?«
»Mein Vater hat kurz nach dem Krieg angefangen, für die UNO zu arbeiten. Ich war also, warten Sie, fast fünfeinhalb Jahre in den Staaten – dreieinhalb Jahre an der Erasmus High School in Brooklyn, dann zwei Jahre in Yale, dank meinem Vater, der Generalsekretär Lie dazu gebracht hat, seine Beziehungen spielen zu lassen.«
Starik zog eine Akte aus der Mitte des Stapels und hielt sie so, dass Jewgeni den Deckel sehen konnte. Sein Name – »Jewgeni Alexandrowitsch Tsipin« – stand darauf, mit dem Vermerk:
»Streng geheim«. Er schlug die Akte auf und nahm ein handbeschriebenes Blatt heraus. »Nicht Ihr Vater hat Generalsekretär Lie dazu gebracht, seine Beziehungen spielen zu lassen, sondern ich, über Außenminister Molotow. Sie können sich offenbar nicht erinnern, aber wir beide sind uns schon einmal begegnet, Jewgeni. Vor sechs Jahren in der Datscha Ihres Vaters in Peredelkino. Sie waren noch keine fünfzehn, gingen auf die Spezialschule Nummer 15 in Moskau und waren ein eifriger, intelligenter und sprachbegabter Schüler; Ihre Englischkenntnisse waren bereits so gut, dass Sie sich mit Ihrer Mutter in dieser Sprache unterhalten konnten – Ihre Geheimsprache, wenn ich mich recht erinnere, damit Ihr Bruder nicht verstand, was Sie sagten.«
Jewgeni musste lächeln. Jetzt, da er mit Starik sprach, begriff er, wie es sein musste, einem Priester zu beichten; man hatte den dringenden Wunsch, ihm Dinge zu sagen, die man normalerweise keinem Fremden erzählte. »Aus nahe liegenden Gründen wurde nicht darüber gesprochen, aber meine Mutter stammte aus einer aristokratischen Familie, die sich in direkter Linie bis zu Peter dem Großen zurückverfolgen lässt – und wie Peter hatte sie den Blick stets nach Westen gewandt. Sie interessierte sich leidenschaftlich für Fremdsprachen – sie sprach Französisch und Englisch. Als junge Frau hatte sie an der Académie de la Grande Chaumière in Paris Malerei studiert, was
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