Die Comtessa
Kopf. »Ich kann nicht glauben, dass sie so niederträchtig sein soll. Sie ist reich, mächtig. Was will sie mehr? Nur wegen eines Titels?«
»Ha!«, gab plötzlich Jori von sich. »Da hab ich schon viel Schlimmeres gesehen.« Die anderen sahen ihn erstaunt an. Auf seinem Gesicht lag die bittere Miene eines abgebrühten Straßenjungen, den nichts mehr überraschen kann. »Da werden schon welche für ein Stück Brot oder eine halbe Münze totgeschlagen. Ich weiß von Müttern, die ihr Neugeborenes ertränken, weil sie nichts zu fressen haben. Oder einer verkauft die eigene Tochter ans Hurenhaus und versäuft das Geld.«
Es war erschreckend, einen Halbwüchsigen so reden zu hören. Betroffen starrte Felipe den Jungen an, der sich aber nur noch mehr ereiferte. »Ihr seid in warmen Stuben aufgewachsen«, sagte er, »und wisst nicht, wie es bei den Allerärmsten ist, zu was manche fähig sind. Und meint ihr, die feinen Herrschaften seien besser? Denkt an Castel Nou. Die Armen morden, weil sie Hunger haben, die Reichen …« Er stockte und senkte den Blick. »Tut mir leid, Herr. Ich wollte Euch nicht beleidigen.«
»Ist schon gut, Jori«, sagte Arnaut und lächelte ihm zu. »In jedem Fall aber müssen wir sofort aufbrechen.«
»Mitten in der Nacht?« Felipe war noch nicht überzeugt.
»Der Kerl ist hartnäckig. Er wird uns aufs Neue belauern.«
»Wir suchen ihn gleich morgen früh und bringen das Schwein um.« Severin war aufgesprungen und sah aus, als wollte er dem Mann eigenhändig die Kehle durchschneiden.
»Wir wissen nicht einmal, ob er allein ist«, sagte Arnaut. »Vielleicht hat er Helfer. Oder sie sind hierher unterwegs.«
»Aber Ermengarda ist verwundet. Sie braucht Ruhe«, gab Felipe zu bedenken. »Wir müssen ein paar Tage warten.«
»Ich schaffe das schon, Felipe«, sagte sie. »Und wenn ich wieder ohnmächtig werde, kann Arnaut mich tragen. Der hat schon Übung.« Es war nur ein kläglicher Versuch, die bedrückte Stimmung zu heben. Doch niemand fand daran etwas zu lachen.
»Das könnte ihm so passen«, erwiderte Felipe. Auch das war in leichtem Ton gesagt, aber als sich die Blicke der beiden jungen Männer unverhofft kreuzten, merkte Arnaut, es war kein Scherz. Felipe war eifersüchtig.
Doch Arnaut ließ sich nicht beirren. »Er muss vermuten, Ermengarda ist tot oder schwer getroffen. Er wird bis morgen warten, um sich davon zu überzeugen. Es wird ihm keinesfalls einfallen, wir könnten mitten in der Nacht aufbrechen. Aber gerade das ist die Gelegenheit, ihm zu entkommen und Ermengarda an einen Ort zu bringen, wo sie sicher ist und niemand weiß, wo wir uns befinden.«
»Und wo soll das sein?«
»Eine sichere Burg mit hohen Mauern, nicht weiter als zwei Tagesreisen von hier. Auf dem Weg nach Carcassona. Sie liegt abgelegen, und ich kenne geheime Wege bis dorthin. Wir werden niemandem auffallen. Wenn wir gleich reiten, haben wir bei Tagesanbruch schon ein Gutteil des Weges hinter uns.«
»Ich weiß nicht«, sagte Felipe. »Was für eine Burg?«
Ermengarda ahnte schon, was Arnaut im Sinn hatte, und lächelte ihm aufmunternd zu. Er beugte sich vor und flüsterte, damit niemand außer den Gefährten ihn hören konnte.
»Wir reiten nach Rocafort.«
***
Dass Arnaut in vielen Dingen das letzte Wort behielt, besonders wenn Ermengarda ihm zustimmte, schmeckte Felipe wenig, ja es ärgerte ihn im Geheimen. Und sich jetzt auch noch auf dessen Familienburg zu flüchten, das war ihm des Guten doch zu viel. Dann hätte er Ermengarda auch in Menerba verstecken können. Dort hätte er sie für sich allein gehabt und müsste sie nicht mit den Gefährten teilen.
Aber natürlich war das Unsinn. Sein Vater hätte nichts dergleichen zugelassen. Und die Kameradschaft ihrer kleinen Truppe, Arnaut inbegriffen, hätte Felipe nicht missen mögen. So ließ er sich mit gemischten Gefühlen von den anderen überzeugen. Es schien im Augenblick wirklich das Beste zu sein. Ein Zufluchtsort, von dem niemand wusste, auf einer gut verteidigten Burg.
In Windeseile packten sie ihre Habseligkeiten, sattelten und beluden die Reittiere. Die Frauen der Priorei bereiteten Zehrung für die Reise zu, und
Magistra
Bertrada übergab ihnen einen Beutel mit sauberen Binden und ein Säckchen getrockneter Kräuter mit Anweisungen, wie Ermengardas Wunden zu pflegen seien. Raimon wurde auserkoren, sich darum zu kümmern.
Auf dem Hof vor dem
refectorium
und im Schein der Fackeln umarmte Ermengarda die Frauen des Klosters, soweit es die
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