Die Containerfrau
verschmiert zu sein. Das bedeutet vielleicht, dass sie noch lebt, denkt Anne-kin. Immer wieder schaut der Krankenpfleger kurz in das grauweiße Gesicht von Kommissarin Halvorsen. Sie geht davon aus, dass er einen »Schock« diagnostiziert. Und wenn das stimmt, dann hat er Recht. Das Beste wäre es, in alle Ewigkeit auf dieser Bahre liegen bleiben zu dürfen. Plötzlich will sie gar nichts mehr wissen, alle Bedürfnisse, Wünsche, irgendetwas zu verstehen, haben plötzlich ihren Körper verlassen. Ist doch egal, was hier abläuft … Als sie das Bewusst sein verliert, merkt sie, wie jemand ihr eine Sauerstoffmaske auf Mund und Nase drückt. Und das schnurrbärtige Gesicht, das sie sieht, ehe ihr alles entgleitet, sieht genauso aus wie das von Kollege Vang. Er sieht ängstlich und sauer aus, denkt sie, und verschwindet in einer barmherzigen Dunkelheit.
29
Die Bewohner des Trondheimer Stadtviertels Møllenberg schlafen immer mit einem zu einem Viertel geöffneten Ohr. Ohne es zu wissen und ohne, dass ihre Lebensqualität darunter zu leiden hätte, schlafen sie mit einem zu einem Viertel geöffneten Ohr. Ihre Gegend, die Baumasse, die in den siebziger Jahren vor abrissgeilen Städteplanern gerettet werden konnte, bildet Europas längste zusammenhängende Holzhausbebauung. Es ist ein Stadtteil, in dem sich alle wohl fühlen, ein Stadtteil mit ganz eigener Prägung, und nach und nach mit hoher Wohnqualität geworden. Und mit äußeren Feinden. Die Städteplaner und Politiker, die das Viertel dem Erdboden gleichmachen und durch Hochhäuser und Blocks ersetzen wollen, stellen zwar keine wirkliche Gefahr mehr dar. Die Bedrohung liegt in den Häusern selbst, in der dichten Bauweise, im Holz. Im Feuer. Im Lauffeuer. Nur wenige verlassen zu Silvester in Møllenberg ihre Häuser. Zu Silvester sitzen die meisten zu Hause, in fröhlicher Runde, mit guter Aussicht auf Raketen und das Neue Jahr, und passen auf ihre Häuser auf. Wenn eine verirrte Rakete fünfzehn Häuser weiter einschlägt, ist auch das eigene Haus in Gefahr. Dann fegt das Feuer von Giebelwand zu Giebelwand und plötzlich gibt es nur noch Asche und rauchende Ruinen. Einen Kilometer weit. Die gemütliche Enge aus Holz hat ihren Preis. Und deshalb hat die Trondheimer Wache in dieser Nacht alle Hände voll zu tun mit Anrufen, die wissen wollen: »Was ist los? Was geht hier vor sich? Warum blinkendes Blaulicht und Absperrungen und schweigende Polizisten, die keinerlei Informationen erteilen, brennt es, oder was?« Die grotesken Scheinwerfer, die über die Häuser schweifen, können die Nerven auch nicht beruhigen.
Sundt hat Absperrungen errichten lassen und die Polizei muss Leute abkommandieren, die die Bewohner bewachen und weghalten. Dann tauchen Presseleute auf, die Nachtwache hatten. Auch sie werden aufgehalten. Denn in den Kulissen wird gearbeitet. Dort, wo wirklich etwas passiert. Verstärkung rückt an. Die Mietshäuser, mit Blick auf Kommissarin Halvorsens Hinterhof, werden durchsucht. Fünf, sechs Häuser mit Gegensprechanlage werden geöffnet, und draußen liegen und stehen Polizisten und halten Ausschau nach Flüchtigen. Ein aushäusiger Ehemann, der seine Geliebte besucht, versucht sich davonzuschleichen. Er wird sofort in einen Streifenwagen gelotst und knabbert Nägel, weil er seinem Ehevertrag zufolge mitten in den Nacht in dieser Gegend nichts verloren hat.
Ansonsten verlässt niemand die Häuser. Die zum Ausgleich von vielen betreten werden.
Die Polizei durchsucht Wohnungen, im Erdgeschoss, im ersten, zweiten und dritten Stock. Und die Dachwohnungen. Denn die Schüsse stammten nicht von einem schießwütigen Cowboy. Sie stammten aus der Nachbarschaft. Aus irgendeiner Wohnung in den Steinhäusern, die Anne-kins Außenlampe gegenüberliegen. Die Häuser werden »plombiert«, das bedeutet, dass fast die gesamte Besatzung der Trondheimer Wache Ausgänge und Türen und Hinterhöfe bewacht. Wenn hier jemand fliehen will, dann werden die Wachen ihn entdecken. Niemand flieht. Und die verschreckten Bewohner lassen sich nach und nach beruhigen. Jedenfalls genug, um nach Hause zu gehen, den Schlüssel dreimal umzudrehen, Haustür und Wohnungstür zu verbarrikadieren und die Kinder zwischen sich ins Ehebett zu packen.
»Ganz ruhig, es brennt nirgendwo. Die Polizei sucht nur schnell einen Verbrecher. Es besteht keine Gefahr, es ist still, kein Wind, nichts brennt. Jetzt müssen wir schlafen.«
Einige wenige Studenten, die aus der Kneipe nach Hause torkeln,
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