Die Corleones
war es ruhig, und obwohl der Hinterhof allen Mietern zugänglich war, hatten die Nachbarn ihn seiner Familie überlassen, ohne dass er sie darum gebeten hätte. Nicht ein einziges Mal in all den Jahren, die er in Hell’s Kitchen gewohnt hatte – mit dem Klappern der Güterzüge, dem Lärm der Automotoren, den Lumpensammlern und Eisverkäufern, den Hausierern und Messerschleifern, die zu den Fenstern hinaufbrüllten –, nicht ein einziges Mal in all den Jahren, die er in jenem lauten Teil der Welt gelebt hatte, hatte jemand anderer an seinem Tisch neben dem Feigenbaum gesessen. Im August, wenn die ersten Früchte vollwangig unter grünen Blättern hingen, stellte er morgens immer eine Holzschale voll saftiger Feigen auf den ersten Treppenabsatz,und wenn sie am späten Vormittag leer war, nahm Carmella die Schale mit in ihre Küche hinauf. Die erste Feige des Jahres behielt er jedoch für sich. Mit einem Küchenmesser schnitt er dann durch die mahagonifarbene Haut in das hellrosarote Fleisch. In Sizilien wurde diese Feigenart »Tarantella« genannt. Hinter seinem Elternhaus hatte sich ein Obstgarten mit Feigenbäumen befunden, ein ganzer Wald, und wenn die ersten Früchte reif gewesen waren, hatten er und sein älterer Bruder Paolo die Feigen wie Süßigkeiten in sich hineingestopft.
Vito erinnerte sich gerne an seine Kindheit. Er konnte die Augen schließen, dann sah er sich als kleinen Jungen, wie er frühmorgens, kurz nach Tagesanbruch, seinem Vater hinterherlief, wenn dieser auf die Jagd ging, den Kolben und den Lauf seiner Lupara über der Schulter. Wie oft hatten sie an dem aus grobem Holz gefertigten Tisch gegessen, sein Vater stets am Kopf der Tafel, seine Mutter am anderen Ende, er und Paolo einander gegenüber, hinter Paolo eine Tür mit einer Glasscheibe und wiederum dahinter der Garten und die Feigenbäume. Er musste sich anstrengen, um sich die Gesichtszüge seiner Eltern ins Gedächtnis zu rufen, und nicht einmal an Paolo konnte er sich in aller Deutlichkeit erinnern, obwohl er ihm damals in Sizilien wie ein Hundewelpe auf den Fersen geblieben war. Ihr Bild war im Laufe der Jahre verblasst, und auch wenn er sich sicher war, dass er sie sofort erkennen würde, kämen sie von den Toten zurück und stünden vor ihm, waren seine Erinnerungen an sie doch verschwommen. Aber hören konnte er sie. Er hörte seine Mutter, wie sie ihn immer wieder gedrängt hatte, er möge sprechen –
Parla, Vito!
Sie hatte sich Sorgen gemacht, weil er so schweigsam gewesen war, und den Kopf geschüttelt, wenn er zur Erklärung nur mit den Schultern gezuckt und
Non so perché
gesagt hatte. Er hörte die Stimme seines Vaters, wie er ihm abends oft Geschichten erzählt hatte, vor dem Feuer. Er hörte, wie Paolo über ihn lachte, als er einmal beim Abendessen eingeschlafen war. Er wusste noch sehr genau, wie er die Augen aufgemacht hatte, den Kopf auf dem Tisch neben dem Teller, von Paolos Lachen geweckt. Er hatte viele solche Erinnerungen.Oft saß er, wenn ihn seine Arbeit wieder gezwungen hatte, eine hässliche Gewalttat zu begehen, in seinem winzigen Hinterhof, im kalten New York in Amerika, und dachte an seine Familie in Sizilien zurück.
Allerdings gab es auch Erinnerungen, die er am liebsten aus seinem Gedächtnis verbannt hätte. Am schlimmsten war das Bild von seiner Mutter, wie sie mit ausgebreiteten Armen nach hinten geschleudert wurde, während der Widerhall ihrer letzten Worte noch immer in der Luft hing:
Lauf, Vito!
Auch die Beerdigung seines Vaters würde er nie vergessen. Er war an der Seite seiner Mutter gegangen, ihren Arm um seine Schulter, dann waren plötzlich Schüsse gefallen, und die Träger hatten den Sarg seines Vaters fallen lassen und waren auseinandergelaufen. Ihm stand noch in aller Deutlichkeit vor Augen, wie seine Mutter über Paolos Leiche kniete – Paolo, der der Leichenprozession in einigem Abstand oben auf den Hügeln gefolgt war –, dann verschmolzen die Bilder miteinander: In einem Moment kniete seine Mutter noch weinend über Paolo, im nächsten schritt er den Kiesweg zu Don Ciccios Villa hinauf, links und rechts von wunderschönen bunten Blumen gesäumt. Seine Mutter sah nichts von alledem, sondern hielt seine Hand umklammert und zog ihn weiter. Don Ciccio saß an einem Tisch, auf dem eine Schale mit Orangen und eine Glaskaraffe mit Wein standen. Der Tisch war klein, rund und aus Holz, mit vier dicken Beinen. Der Don war ein stämmiger Mann mit einem Schnurrbart und einem Leberfleck auf
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