Die Cromwell Chroniken - Schicksals Pfade (German Edition)
war nun, das Gelernte wachzuhalten. Der Student war sich im Klaren darüber, dass ihm das nicht immer gelingen würde. Doch das Gute war: Es machte nichts aus. Gott erwartete weit weniger von uns als wir von uns selbst. Keine Perfektion – nur Nähe.
Gott sehnt sich nach uns. Viele gläubige Menschen sprechen davon, dass der Mensch ein Vakuum in sich trägt, das nur Gott füllen kann. Doch vielleicht ist es auch umgekehrt? Vielleicht trägt auch unser Vater ein Vakuum in sich, das nur von jedem von uns gefüllt werden kann. Und ein Teil davon heißt Graciano. Welch schöner Gedanke.
„Würdest du mir bitte den Reißverschluss zumachen?“, fragte ihn Eliane Lindner und hielt sich die Haare hoch.
Die Kutten wurden über der Kleidung getragen und am Rücken verschlossen.
„Selbstverständlich.“
Die anderen Studenten waren sich ebenfalls gegenseitig behilflich beim Ankleiden. Graciano sah sie sich noch ein letztes Mal an, bevor ihre Leben für immer zusammengeschweißt wurden: Tobias Schulz, sein Mitbewohner. Sie teilten sich in Cromwell ein Zimmer und Graciano war der Meinung, dass er es wirklich gut mit ihm getroffen hatte. Tobias und er hatten sehr viele ähnliche Interessen und die gleichen Tagesabläufe. Sie standen gemeinsam zum Morgengebet auf und nach der Nachtmesse wurde sofort das Licht ausgemacht. Mike Dreve war dabei, mit anderen Kommilitonen zusammen eine Lobpreisband zu gründen. Mit Salome Wengler und Samuel Borowski hatte er sehr wenig zu tun. Das kam mit erster Linie daher, dass er sich sehr intensiv um seine Freunde und Zirkelmitglieder kümmerte. Der Student sah es als seine Aufgabe, sich um die Menschen in seiner unmittelbaren Nähe zu kümmern. Und gerade seine Freunde in ihrer Unterschiedlichkeit brauchten seine versöhnenden Worte.
Mehr als meine friedfertigen Ordensgeschwister.
Aber da sie nun bald etwas Bleibendes miteinander verband, würde er in Zukunft sehr viel Gelegenheit erhalten, sie noch besser kennenzulernen.
Die Tür zum Langhaus öffnete sich und die Studenten liefen in Paaren durch das Mittelschiff. Vorbei an den langen Bankreihen. Riesige Steinpfeiler erhoben sich in schwindelerregende Höhen und trugen das Gewölbe, auf dem wundervolle Gemälde prangten. Die ersten Sonnenstrahlen brachen bereits durch die farbenprächtigen Mosaikfenster, trotzdem war der kreuzförmige Raum immer noch sehr dunkel. Aus diesem Grund hatte man an jeder Säule Kerzenständer aufgestellt. Das flackernde Licht sorgte für eine angenehme, warme Atmosphäre.
Die Seitenschiffe waren bis auf den letzten Platz gefüllt. Freundliche Gesichter blickten ihnen entgegen. Sie trugen dieselbe Sehnsucht in sich, waren in die gleichen Kutten gehüllt. Keine Hierarchie. Alle waren gleich. Dies waren die Menschen, die in letzter Zeit für sie gebetet hatten.
Wärme breitete sich in Gracianos Innerem aus. Sie hieß: Glaube, Liebe, Hoffnung.
Die Feierlichkeiten begannen mit einem Orgelspiel und mündeten in eine sehr berührende Predigt. An den Gesichtern der Studenten konnte man ablesen, dass sie alle sehr ergriffen waren. Graciano bemühte sich, sich jedes einzelne Wort einzuprägen. Jeder Satz war ein Kleinod, eine Leuchte auf dem Weg seiner Berufung. Schließlich kniete der Student auf einer niedrigen, mit rotem Samt bezogenen Bank vor Bischof Eberz. Er hatte den Kopf gesenkt und die Hände gefaltet. Diese Haltung bedeutete jedoch nicht, dass er sich vor einem anderen Menschen erniedrigte, sondern es war ein Zeichen der Demut gegenüber Gott.
Da Jesus seine Jünger aufgefordert hatte, nicht zu schwören, legten die jungen Wächter ein Versprechen statt eines Ordensschwurs ab.
„Graciano García Fernandez, willst du dich in Gottes Hand gegeben, ihm dienen und Werkzeug sein zu dem Zeitpunkt, den er bestimmt? Wirst du dein Möglichstes tun, um unsere Gemeinschaft zu schützen und die Menschheit vor dem Bösen zu bewahren? Willst du nach dem Guten streben und Vorbild für dein Umfeld sein, das sich nach Gottes Geboten richtet, so sprich: Ja, mit Gottes Hilfe.“
„Ja, mit Gottes Hilfe.“
„Du bist sicher, dass es in Ordnung ist?“, fragte Linda bereits zum vierten Mal.
„Aber ja. Das habe ich dir doch schon mehrmals angeboten.“
Cat streifte sich die weiße Toga über den Kopf und fühlte, wie der kühle Stoff an ihrem Körper herabglitt. Erleichtert stellte sie fest, dass ihr Gewand bei Weitem nicht so gewagt geschlitzt war wie Gesthimanís Kleid.
„Denn eigentlich kann ich jetzt, wenn es
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