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Die Daemmerung

Die Daemmerung

Titel: Die Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
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dem Nichts, so als wäre er aus einer Falte der Luft getreten.
    Ich kann das Weinen der Zelebranten nicht länger ertragen.
Ynnirs Gedanken flatterten in Barricks Kopf wie die herabsinkenden Blätter.
Deshalb habe ich meine Schwester — meine Liebste — aus der Kammer der Totenwache geholt. Wie immer du dich entscheidest, Barrick Eddon, ich muss ihr meine Kraft bald geben, wenn ich sie am Leben erhalten will. Ich spüre, dass der Handfertige nichts mehr vermag. Meine eigene Kraft schwindet. Bald wird auch die Gabe des Spiegelglases Saqri nicht mehr helfen, und dann spielt es keine Rolle mehr, was wir tun.
    Komm mit mir.
    Schweigend begleitete Barrick den König aus dem nassen Garten zurück in die hallenden Flure. Während sie durch den Palast gingen, kamen etliche von Ynnirs Dienern wispernd aus den Schatten hervor, Wesen verschiedenster Gestalt und Größe, die ihnen in respektvollem Abstand folgten. Die fremdartigen Gesichter, die ihn beäugten, gaben Barrick ein unbehagliches Gefühl, aber nur, weil er wusste, dass sie hierhergehörten und er nicht.
    »Ich weiß nicht, was ich tun soll«, sagte er schließlich. »Ich weiß ja nicht, was passieren wird.«
    Wenn du es wüsstest, würdest du nur eine Auswahl treffen, keine eigene Wahl.
Ynnir blieb stehen und drehte sich zu ihm.
Hier, Kind. Ich will dir etwas zeigen.
Er griff an seine Augenbinde, berührte sie behutsam mit seinen langen Fingern.
Als die Jahre vergingen und die Not unseres Volkes immer schlimmer wurde, wandte ich mich immer mehr nach innen, auf der Suche nach irgendetwas, das uns retten könnte. Ich verbrachte fast jeden Augenblick mit meinen Vorfahren, mit der Feuerblume und der Tiefen Bibliothek, und reiste in Gedanken an Orte, welche keine Namen haben, die du verstehen würdest. Ich tauchte so tief in das ein, was sein könnte und was gewesen war, dass ich nicht mehr sah, was unmittelbar vor mir war. Ein Jahrhundert verging, ehe ich merkte, dass meine Frau, meine geliebte Schwester, im Sterben lag.
Er löste den Knoten der Augenbinde, ließ den Stoffstreifen herabgleiten. Seine Augen waren milchweiß.
Schließlich verlor ich tatsächlich das Augenlicht. Ich weiß schon nicht mehr, wann ich zuletzt das Gesicht meiner geliebten Frau anders als in der Erinnerung gesehen habe. Ich werde nie wissen, wie du aussiehst, Junge, außer in den Gedanken anderer. Und das nur, weil ich wissen wollte, was alles geschehen könnte. Weil ich versucht habe, keine Fehler
zu
machen.
    »Ich ... ich glaube, ich verstehe nicht ...«
    Eins unserer Orakel sagt,
›Regen fällt, Tau steigt empor. Dazwischen ist Nebel. Dazwischen ist alles, was ist.‹
Nimm das als Antwort, Menschenkind. Grüble nicht
zu
viel über das, was war oder was kommen könnte. Zwischen beidem ist alles, was zählt — alles, was ist.
    Ynnir band sich die Augenbinde wieder um und ging weiter. Barrick eilte hinter ihm her, begleitete ihn wieder eine ganze Weile schweigend und in Gedanken.
    »Könntet Ihr das auch tun, wenn ich es nicht wollte?«, fragte er schließlich. »Könntet Ihr es mir aufzwingen?«
    Ich verstehe nicht. Ob ich dich zwingen könnte, die Feuerblume anzunehmen?
    »Ja. Könntet Ihr mir die Feuerblume geben, wenn ich es nicht wollte?«
    Was für eine seltsame Frage.
Ynnir schien müde: Seine Bewegungen waren noch langsamer als in den ersten Stunden nach Barricks Ankunft.
Ich kann mir so etwas nicht vorstellen — warum sollte ich das tun?
    »Weil Ihr es tun müsst, damit Euer Volk überlebt! Ist das nicht Grund genug?«
    Wenn du die Feuerblume übernimmst, Barrick Eddon, heißt das nicht, dass mein Volk selbst überleben wird — nur sein Wissen.
    »Aber könntet Ihr sie mir aufzwingen?«
    Ynnir schüttelte den Kopf.
Sie ... ich ... es tut mir leid, Kind, aber Gedanken, die durch deine Sprache gefärbt sind, können die Bedeutung nicht tragen. Die Feuerblume ist unsere größte Gabe, das Geschenk Krummlings, das uns von allen anderen unterscheidet. Diejenigen von uns, die sie weitertragen werden, warten ihr Leben lang darauf und wir bekommen sie erst dann, wenn unsere Mütter oder Väter im Sterben liegen. Dann, wenn wir sie haben, verbringen wir den Rest unseres Lebens damit,
zu
planen, wie wir sie unseren Erben, den Kindern unseres Leibes, übergeben werden. Dich zwingen, sie
zu
nehmen — ich finde nicht die Worte, es zu erklären, aber das ist für mein Denken nicht möglich. Entweder du nimmst sie an, und dann werden wir sehen, was geschieht, oder du nimmst sie nicht an, und

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