Die Daemonen 02 - Freiheit oder Finsternis
noch dann und wann und in unentschlüsselbaren Teilen, dann war Lebenserfahrung womöglich das Einzige, woran man sich noch halten konnte. Außerdem garantierten die Entscheidungen der Ältesten, dass nichts Überhastetes beschlossen wurde, dem Schwache und Betagte zum Opfer fallen würden.
Lae sah ihr Land Orison von einer Faust umschlossen, einer rot glühenden Faust mit langen Tierkrallen. Diese Faust zerquetschte das Land, und was hervorquoll, waren Blut und Tränen und geschmolzener Schnee.
Am vierten Tag im Gebirge erklärten die Führer wehklagend, dass es voraus keinen weiteren Weg mehr gäbe und der Flüchtlingszug sich verirrt hätte. Das Schneetreiben an diesem Tag war dermaßen heftig, dass einige Leute in Panik ausbrachen, weil sie fürchteten, die geflügelten Dämonen wären nun doch zurückgekehrt und bewürfen sie alle mit Steinen.
Am fünften Tag verordnete Lehenna Kresterfell in Übereinstimmung mit den Ältesten dem gesamten Tross einen Tag Ruhe. Dennoch kam es zu Prügeleien: um die besten, wind- und schneegeschütztesten Ruheplätze und um die Essenszuteilungen. Die Vorräte wurden langsam knapp und mussten streng rationiert werden.
Am sechsten Tag fand ein erst dreizehnjähriges Mädchenaus dem Zweiten Baronat eine schmale Passage: einen Höhlengang, dessen Wände aus blauem Eis bestanden. Der Tross quetschte sich hindurch wie ein dicker, fransiger Lindwurm. Erneut brach Panik aus. »Ein Hinterhalt!«, kreischten einige. »Könnt ihr denn nicht sehen, dass dieses Loch eine perfekte Falle ist, ein Grab?« Doch Angriffe von außen unterblieben. Die Flüchtlinge dezimierten sich nur untereinander, im Gedränge und in weiteren Raufereien.
Am siebten Tag verlor sich der Tross, umzingelt von Bergen, die höher schienen als Blicke reichten, vor einer Vielzahl weiterer Wegmöglichkeiten. Man entschied sich für einen Pfad, den der älteste Führer vorschlug.
Am achten Tag stieg man auf.
Am neunten Tag stieg man weiter hinauf. Einige vermeinten dämonische Reiter auf ungewöhnlich großen Gämsen zu sehen, doch immer, wenn sie jemand anderen auf den Anblick aufmerksam machen wollten, waren die Reiter hinter Schneeböen verschwunden. Furcht grassierte Seite an Seite mit Lungenentzündungen und Unterkühlung.
Am zehnten Tag brach die bislang heftigste Panik aus. Man stieg weiter auf, und die Luft wurde dünn. Einige meinten, es gäbe in dieser Höhe zu wenig Luft für 28 000 Menschen. Man müsse auswählen. Die Schwachen sollten den Starken das Atmen nicht verwehren. Die Alten und Kinder sollten hierbleiben, die Starken weiterziehen und aus Coldrin Hilfe holen. Es kam zu Handgemengen und Messerstechereien darüber, wer denn nun die »Starken« und die »Schwachen« seien. Ein alter Mann wurde mit einem gusseisernen Schürhaken erschlagen. Die Königin entfernte sich in ihrem Innerenimmer weiter von den Menschen, die ein ungerechtes Schicksal ihr auferlegt hatte.
Am elften Tag wurde der Tross in großer Höhe gefunden, von in fließenden Gewändern mit langen Schals gekleideten Reitern auf langhörnigen, zotteligen Großgämsen. Als sie langsam näherkamen, fünfzehn an der Zahl, konnten auch die Aufgeregtesten unter den Flüchtlingen erkennen, dass es sich bei den Reitern nicht um Dämonen handelte.
»Wir euch schon länger beobachtet«, lachte der Anführer, ein listiger Sechzigjähriger mit dunkel getönter Haut und blitzenden Mandelaugen. »Ihr wirklich größte Gruppe von Botschaftern aus Odizonn , die ich jemals sieht.«
Lehenna Kresterfell, die dieses Gespräch zu führen hatte, weil die Königin kaum noch ansprechbar war, beschloss, dem Mann ihr Vertrauen zu schenken. In Zeiten wie diesen wog es schwer, Menschen vor sich zu haben.
»Dämonen fallen über unser Land her, und wir sind auf der Flucht«, erklärte sie. »Wir führen die Königin mit uns, Lae I. Sie wurde im Kampf verwundet. In ihrem Namen bitte ich Euch um Beistand und vielleicht um einen Führer, der uns sicher durch dieses Gebirge zu König Turer bringen kann. Wir sind bereit zu zahlen, was wir erübrigen können. Vielleicht können wir auch Dinge eintauschen, die für Euch von Nutzen sind.«
»Zum König?« Der Reiter lachte wieder. »Immer wieder es euch aus Odizonn zieht zum König. Immer wieder ich euch abrät. Mal ihr hört, mal nicht. Ihr nicht hört, ich ahnt schon, weil zu viele. Was ist Dämonen ?«
»Furchtbare Wesen. Grausame Wesen. Keine Menschen wie Ihr und wir.«
»Aber aus Fleisch?«
»Ja.«
»Die man
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