Die Dämonen ruhen nicht
ungeklärten Mordfall: Susan Pless.«
Auch Lucy erhebt sich, mustert Berger eindringlich und kann sich denken, was sie als Nächstes sagen wird.
»Chandonne wird dieser Mord zur Last gelegt, und du weißt genau, warum ich aufgegeben, das Handtuch geworfen und beschlossen habe, keine Anklage gegen ihn zu erheben und ihn stattdessen nach Texas zu überstellen.«
»Wegen der Todesstrafe«, erwidert Lucy.
67
Die beiden bleiben an der schallsicheren Tür stehen. Die Monitore leuchten, Aufnahmen der Überwachungskameras wandern von einem Bildschirm zum anderen, und kleine helle Lämpchen blinken weiß, grün und rot, als ob Lucy und Berger sich im Cockpit eines Flugzeugs befänden.
»Mir war klar, dass er in Texas zum Tode verurteilt werden würde, und so kam es auch. Am 7. Mai«, murmelt Berger. »Hier hätte er nicht die Todesstrafe gekriegt. In New York niemals.« Sie verstaut ihren Schreibblock im Aktenkoffer und klappt ihn zu. »Eines Tages lässt der Oberstaatsanwalt vielleicht die Spritze zu, aber das werde ich sicher nicht mehr erleben. Doch jetzt ist die Frage, Lucy, ob wir wollen, dass Chandonne stirbt. Und was noch wichtiger ist: Wollen wir, dass der Typ, der in seiner Zelle in Polunsky sitzt, hingerichtet wird, obwohl wir nicht mehr sicher sein können, wer er ist, seit wir diese Nachrichten von dem berüchtigten Loup-Garou erhalten haben?«
Berger sagt wir, obwohl sie gar keinen Anruf von Jean-Baptiste Chandonne bekommen hat. Soweit Lucy im Bilde ist, hat er sich nur mit ihr, Marino und Scarpetta in Verbindung gesetzt. Zuerst per Brief und jetzt in einem Telefonat, das offenbar in der Upper East Side von Manhattan geführt wurde, sofern weder ein technischer Fehler noch menschliches Versagen vorliegt.
»Kein Richter wird anordnen, ihm eine DNS-Probe abzunehmen«, wiederholt Berger, ruhig und selbstbewusst wie immer. »Nicht ohne hinreichende Verdachtsmomente, die so eine Anordnung rechtfertigen würden. Also werde ich sie mir beschaffen, ihn nach New York ausliefern lassen und ihn wegen Mordes an Susan Pless anklagen. Auf der Basis seiner DNS aus dem Speichel werden wir eine Verurteilung erreichen, auch wenn wir wissen, dass die Samenflüssigkeit in der Scheide des Opfers nicht von ihm stammt, sondern von Jay Talley, seinem Zwillingsbruder. Chandonnes Anwalt Rocco Caggiano wird zu allen schmutzigen Tricks greifen, die ihm einfallen, wenn wir diesen Fall wieder aufrollen.«
Über das Thema Rocco Caggiano spricht Lucy lieber nicht. Ihre Miene bleibt reglos. Doch wieder steigt Brechreiz in ihr hoch. Sie unterdrückt ihn. Mir darf jetzt nicht übel werden, befiehlt sie sich lautlos.
»Ich würde Talleys Samenflüssigkeit auf jeden Fall als Beweis anführen, und da wird die Sache heikel. Die Verteidigung wird dagegenhalten, dass Jay Talley, der vor dem Gesetz auf der Flucht ist, Susan vergewaltigt und ermordet hat. Ich hingegen kann lediglich zweifelsfrei beweisen, dass Chandonne es war, der sie gebissen hat. Zusammengefasst«, verkündet sie in einem Ton, der sonst dem Gerichtssaal Vorbehalten ist, »wird der Urheber der Samenflüssigkeit die Geschworenen hoffentlich nicht interessieren, denn sie werden entsetzt genug darüber sein, dass der Speichel, der in den Bisswunden praktisch überall an Susans Oberkörper sichergestellt wurde, auf eine
Folterung durch Chandonne hinweist. Aber ich kann nicht beweisen, dass er sie ermordet hat oder dass sie überhaupt noch lebte, als er anfing, sie zu beißen.«
»Scheiße«, meint Lucy.
»Vielleicht wird er verurteilt. Vielleicht glauben die Geschworenen, dass sie starke Schmerzen erleiden musste und dass es sich um einen Mord aus niederen Beweggründen handelt. Dann wäre es möglich, dass die Todesstrafe verhängt wird. Doch die wird in New York nie vollstreckt. Bei einer Verurteilung würde er also lebenslänglich ohne die Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung bekommen, und in diesem Fall müssten wir mit ihm leben, bis er im Gefängnis das Zeitliche segnet.«
Lucy legt die Hände auf den Türknauf und lehnt sich an die dicke Schallisolierung aus Schaumgummi. »Ich wollte immer, dass er stirbt.«
»Und ich war froh, dass er in Texas gelandet ist«, erwidert Berger. »Aber ich brauche seine DNS, damit wir sichergehen können, dass er sich nicht auf der Straße herumtreibt und sich das nächste Opfer ausguckt...«
»... was eine von uns beiden sein könnte«, ergänzt Lucy.
»Lass mich ein paar Anrufe machen. Zuerst muss ich einem Richter mitteilen,
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